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Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Titel: Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Preisendörfer
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bevorstehenden) Tod der Mutter empfinden würde:
»Wenn meine gute Mutter stürbe, die ich liebe und achte, der ich jede solidere Richtung meines Charakters zu danken habe, und wegen welcher das Erdenleben noch das meiste Interesse für mich hat; ich würde bei ihrem Tode vermutlich nicht so unaussprechlich schmerzlich trauern, obgleich meine Trauer gewiss länger und tiefer sein würde.«
    Das Verhältnis Seumes zur Mutter war nicht einfach, genau wie das zu den Mädchen und zur Frau überhaupt. Er war ein ungestilltes Kind und ein Mann von unstillbarer Sehnsucht. Eine psychoanalytische Deutung seiner Persönlichkeit könnte ihre Reize haben. Aber Leute, die seit Jahrhunderten im Grab liegen, bettet man nicht um auf die Couch. Im Übrigen käme im Fall Seume statt der Freud’schen Hermeneutik eher die moderne Bindungstheorie infrage, wollte man schon von nekropsychologischer Diagnostik nicht lassen. Nach ihr hätte Seume als ›unsicher gebunden‹ zu gelten.
    Wie wichtig die ersten Lebensjahre für den Seelencharakter eines Menschen sind, ist keine Erkenntnis der Bindungstheorie zu Beginn des 21.Jahrhunderts oder der Psychoanalyse um die Wende vom 19ten zum 20sten. Im ersten Drittel des 18.Jahrhunderts schrieb Johann Christoph Gottsched unter dem Pseudonym »Calliste« in seiner »moralischen Wochenschrift« Die vernünfftigen Tadlerinnen : In der »Morgenröte unseres Lebens ist, meines Erachtens, von unzähligen Eigenschaften unseres Gemütes und Körpers der Grund zu suchen. Hier bildet sich diejenige Beschaffenheit unsers Wesens, welche man das Naturell zu nennen pflegt.«
    Zu Seumes »Naturell« gehörte das Sich-binden-wollen-und-nicht-können. Daraus erwuchs die frustrierte Freiheit des Mannes mit den vielen Vätern. Einem von ihnen, Graf von Hohenthal, schrieb er kurz vor der Verschiffung nach Amerika, er halte seine Lage »noch nicht vor [für] unglücklich, nur vor fatal«. Wie es ausgehe, müsse sich erst noch zeigen. Dann bricht ins Begrübeln des künftigen Schicksals ein Gefühl, aber ein Pflichtgefühl:
»Meine Mutter. Dies ist das Härteste! Wenn Sie mich noch nicht vor ganz verwildert, vor ganz verdorben halten, so sein Sie versichert, dass Kindespflicht mir das erste, heiligste Gefühl ist.«
    Im ersten Brief an Freund Korbinsky einige Wochen zuvor steht zu lesen:
»Meine Mutter, ach! ich darf nicht als mit der größten Verwundung meines kindlichen Herzens an sie denken, – auch diese soll [wie zu diesem Zeitpunkt noch Hohenthal und Schmidt] nichts von mir wissen: es macht ihr mehr Sorge.«
    Ob er, wie an Hohenthal zweieinhalb Monate und an Schmidt vier Jahre später, seiner Mutter von unterwegs doch noch geschrieben hat, ist unklar. Der erste von insgesamt drei überlieferten Briefen stammt aus seiner zweiten Leipziger Studienzeit und ist nichts weiter als ein Begleitschreiben, kurz und sehr nüchtern:
»Liebe Mutter,
Ich habe versprochen, heute dem Manne [offenbar aus dem Dorf der Mutter], ich habe seinen Namen vergessen, seine kleine Rede an Erndekranztage [Erntedankfest] zu schicken; hier ist sie. Habt die Güte, sie ihm zu geben. Er soll sie ordentlich lernen, so wird sie erträglich sein. Ich habe sehr wenig Zeit, sonst hätte ich auch noch an den Herrn Magister [gemeint ist Pfarrer Schmidt] geschrieben.
Lebt wohl
Euer
gehorsamer
Sohn
J.G.Seume«
    Der zweite überlieferte Brief an die Mutter liegt einem Paket Wäsche bei, das er bald gewaschen zurückerbittet.
»Ich wünschte Euch wohl selbst zu sprechen, habe aber jetzt nicht Zeit hinauszukommen.«
    Der dritte ist vom April 1803. Seume hat seinen alten Gönner besucht und will über Ostern nach Dresden wandern, für Mutter und Schwester fehlt ihm wieder die Zeit:
»Vorigen Sonntag war ich bei dem Grafen Hohenthal […] und hörte da von […] der Schwester Niederkunft, aber auch zugleich von Eurer Krankheit. Zu der ersten wünsche ich Glück, und hoffe, dass die andere bald wieder vorüber gehen wird. […] Wenn ich nicht längst versprochen hätte, diese Ostertage einen Gang nach Dresden zu machen, würde ich wohl ein wenig zu Euch kommen.«
    Nach weiteren Ermunterungen (»Rafft nur Eure Kräfte zusammen und haltet Euch«) folgt mit »wahrer Liebe und Hochachtung« der Gruß und darauf die Begütigung:
»Zwischen Ostern und Pfingsten komme ich schon irgend einen Sonntag einmal einige Stunden hinaus.«
    Es ist zu spüren, dass er sich verpflichtet fühlt – und dass es keine angenehme Verpflichtung ist. Dafür gibt es sogar einen

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