Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
[weil Seume länger nicht geschrieben hat], so weiß ich mir freilich nicht zu helfen.«
Nach dieser ganz unbesorgten Bitte um Nachsicht spricht er besorgt über Gleims Unnachsichtigkeit:
»Ich komme, merk ich, hier und da in Kollisionen mit meinen Meinungen. Gleim hat mir eine ziemliche Anzahl Briefe, voll der wärmsten, herzlichsten Freundschaft geschrieben. Seit ich über einige Punkte vielleicht etwas zu offenherzig mich expektorierte, habe ich keine Silbe gesehen. Er verlangte mein Bild, ich habe es ihm geschickt, und seit einem Monat auf nur 15 Meilen Entfernung keine Antwort. Er befindet sich wohl, das haben mich andere versichert, die ihn in der Zeit sahen. Da sehen Sie, ich krieche wieder zurück in meine Nussschale, werde aber schwerlich anders.«
Am 30. August kann er sich erleichtert bei Gleim melden, endlich:
»Vorgestern erhielt ich Ihren so gütigen, väterlichen Brief vom 12ten Juni datiert. Ich bin seit einiger Zeit in großer Angst gewesen, und machte mir mancherlei Vorstellungen, von denen keine sehr tröstlich war. Wo der Brief über neun Wochen kann gelegen haben, ist mir freilich unbegreiflich; doch bin ich nun schon beruhiget.«
Im Oktober kommt es dann zur ersten Begegnung zwischen den beiden. Seume fährt unangemeldet nach Halberstadt und wird vom Hausdiener, dem er seinen Namen nicht nennt, ins Galeriezimmer geführt. Zwei frisch eingetroffene Gemälde stehen an die Wand gelehnt auf einem Tisch. Das eine zeigt Adam Friedrich Oeser, den Direktor der Leipziger Kunstakademie und Freund Seumes – doch kam Seume nach Oesers Tod 1799 der Bitte, dessen Biographie zu schreiben, nicht nach. Das zweite Bild zeigt Seume.
»Als ich mich rund herum unter der Menge [der Leute auf den Bildern] etwas orientierte, kam Er: die Rührung versagte mir im Augenblick schickliche Worte, ich ging auf ihn zu, sahe ihn fest an, fasste seine Hand und wollte sie zum Munde führen. Ach mein Gott, Sie sind Seume, sagte er, fiel mir um den Hals und führte mich auf das Sofa.«
Gleim starb am 18. Februar 1803, und die Passage entstammt dem Nachruf Einige Blumen auf Gleims Urne , den Seume in der Zeitung für die elegante Welt veröffentlichte – nicht im Weimarer Neuen Teutschen Merkur , obwohl Böttiger dafür um einen Text gebeten hatte.
»Als Leipziger«, beschied Seume, »muss ich doch billig etwas in ein Leipziger Blatt geben; […] Wenn Sie mich dann und wann als Dichter aufnehmen wollen, werde ich mich sehr geehrt finden; den Prosaiker will ich hier behalten.«
Durch den Dichter Seume hatte Böttiger überhaupt erst von Gleims Ableben erfahren, denn veranlasst durch den Todesfall hatte Seume das Gedicht Den Manen Gleims (im Originaldruck Gleim’s !) eingeschickt. Dessen letzte Strophe lautet:
»Wenn ich als Greis am Knotenstocke wanke,
Zurück und vorwärts blicke, gibt
Mir Jugendfreude der Gedanke,
Dass Gleim und Weiße mich geliebt.«
Christian Felix Weiße galt als der Leipziger ›Pate‹ Seumes. Der Jugendschriftsteller und ehemalige Herausgeber der Zeitschrift Der Kinderfreund (1775 bis 1782) war über Jahrzehnte eine Zelebrität in der Buchstadt, dort so weltberühmt wie Gleim in Halberstadt. Er hat vieles und viele vermittelt: dem jungen Böttiger zum Beispiel eine Hofmeisterstelle und Seume sowohl die Übersetzung eines englischen Romans für Göschen als auch eine Stelle als Erzieher und Reisebegleiter des jungen Grafen Gustav Andreas Otto von Igelström. Diese Position wiederum brachte Seume mit seinem ersten großen Chef in Verbindung: jenen General Igelström, in dessen Dienst er die russische Besetzung Polens er- und den polnischen Aufstand überlebte.
Über Weiße äußerte sich Seume in einem 1800 im Neuen Teutschen Merkur abgedruckten Lebensbild seines Freundes und zeitweiligen Begleiters auf dem Weg nach Syrakus, Veit Hanns Schnorr von Carolsfeld:
»Weiße, in nähern und fernern Kreisen der väterliche Ratgeber und Unterstützer jedes aufkeimenden Talents, das sich ihm nähert, verschaffte ihm [Schnorr] manche Bekanntschaft.«
Ebendies galt auch für das Verhältnis zwischen Seume und Weiße.
Der letzte ›Vater‹ (und Übervater) in Seumes Leben ist Christoph Martin Wieland gewesen, der poetisch eleganteste und in seiner kritischen Prosa liebenswürdigste aller deutschen Schriftsteller der Aufklärung. Wieland gehörte für die Zeitgenossen neben Herder und Goethe zum Triumvirat des Weimarer Kulturbetriebs. Er war kein Kraftgenie wie die jungen Wilden des Sturm und Drang , die
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