Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
unermüdeter Treue zu dienen. Gern wollte ich zehn Leben für den König und die Asche des Verstorbenen aufopfern, aber meine besten Tage, die Blüte meiner Jahre in eingeschlossener Untätigkeit hinter der Tasche zu verschlafen – setzen Sie sich an meine Stelle – das schmerzt, schmerzt tief.«
Im Mai 1798 gibt es erneut preußische Erwägungen. Der im Normann-Brief neue König (Friedrich Wilhelm II.) war im Vorjahr gestorben und seinerseits durch einen neuen König (Friedrich Wilhelm III.) ersetzt worden.
»Dass ihr Herz so väterlich für mich sorgt rührt mich unaussprechlich. Den jetzigen König verehre ich unaussprechlich; denn alles, was ich von ihm gehört habe, war gut und brav und menschlich, und wenn ich die Wahl hätte, irgendwo zu leben, so würde ich seine Staaten wählen.«
Aber bei dem von Gleim aus »väterlicher Sorge« offenbar gemachten Vorschlag, Seume möge in preußischen Militärdienst treten, rudert der junge Mann zurück: Er sei schon 35 und könne sich nicht mehr als kleiner Leutnant einstellen lassen – das war sein Rang beim Ausscheiden aus russischem Dienst. Auch möchte er nicht »tief nach Ostpreußen oder Ostfriesland« verschlagen werden. Überhaupt käme für ihn eine preußische Position nur infrage, wenn er »dem König selbst bekannt würde«. Damit ist die Sache erledigt. Wie sollte der nahezu unbekannte sächsische Schriftsteller an den preußischen König herankommen?
Seume hatte Gleim gewissermaßen als Vater adoptiert. Das rührte Gleim und behagte ihm, alles in allem, obwohl Seume zwar Briefe an den alten Mann schrieb, sich aber in Halberstadt einstweilen nicht sehen ließ – oder nur als Bild. Am 9. Mai 1798 erbat Gleim sich eines: »Was Sie, lieber Herr Seume, von Ihrer Lebensart mir sagen, beweist mir, dass sie glücklicher und reicher als ein König sind; also bitt ich mir Ihr Portrait in meinen kleinen Musen oder Freundschaftstempel, nach beigehendem Maße des Blindrahmens.«
Gleim trug im Lauf der Jahre eine Sammlung von Gemälden von Schriftstellern und Gelehrten zusammen, mit denen er korrespondierte. Die Formate sind normiert, und die Porträts hängen Rahmen an Rahmen an der Wand. Dieser einmalige Bildraum des Geistes im 18.Jahrhundert ist noch heute im Halberstädter Gleimhaus zu sehen. Goethe übrigens hängt nicht an der Wand. Er hätte ein Porträt sicher nur unter der Bedingung geschickt, dass es ein Zimmer für sich allein bekommt. Seume indessen kündigt Gleim schon einen Monat später die Erfüllung seiner Bitte an:
»Mein Bild ist ziemlich fertig, und ich werde ehestens die Ehre haben, es Ihnen zu übersenden.«
Im gleichen Brief setzt er sich ausführlich mit der preußischen Politik, mit Russland und mit den Folgen der Französischen Revolution auseinander – »Verzeihen Sie, verehrungswürdiger Mann, diese Expektorationen!« – und kommt in jedem einzelnen Punkt zu Ergebnissen, die Gleims Ansichten widersprechen. Dessen Antwort bleibt aus. Aufgeregt schreibt Seume Mitte Juli einen neuen Brief:
»Verehrungswürdiger Vater Gleim,
sehr oft werde ich ängstlich bei dem Gedanken an Sie, ohne dass ich mir deutliche Rechenschaft geben kann. Sie sind immer so gütig väterlich gegen mich; und mich däucht, Sie würden mir einige Zeilen geschrieben haben, wenn alles wäre wie es sein sollte. Die Furcht, Sie vielleicht beleidiget zu haben beunruhigt mich, aber noch mehr die Furcht, dass Sie vielleicht nicht gesund sind. Ich weiß kaum, welches von beiden schlimmer wäre. Der Himmel verhüte aber nur das letzte; das erste wäre durch Ihre Großmut und meine Aufrichtigkeit zu bessern. Wenn Ihnen einige meiner Äußerungen oder wenigstens in ihrer Art missfallen haben, so bedenken Sie, dass es mir doch nicht so erniedrigend sein würde, Ihre Missbilligung zu tragen, als mich vor Ihnen zu verstecken und Sie zu hintergehen.
Hier schicke ich Ihnen mein Bild mit mancherlei Empfindungen. Die Hauptempfindung ist Dank und kindliche Verehrung gegen den Mann, der mit so lebhafter Freundschaft gegen einen Unbekannten denken und handeln kann, dessen Kopf und Herzen er einiges Gute zutraut.«
Dieser beklemmende Brief zeigt, dass Seume es nie wagen konnte, sich eines anderen völlig sicher zu sein, nicht einmal bei Vater Gleim. Weitere vier Wochen später, Mitte August, schreibt er an den ›amerikanischen‹ Freund:
»Lieber Münchhausen,
Mich däucht, Sie haben ein Recht, mit mir zu zürnen, und wenn Sie nicht auch die Pflicht fühlen, mir zu vergeben
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