Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
Zeugen, ebenjenen Henry Crabb Robinson, der Seume im November 1801 auf der Reise nach Weimar begleitete. Unterwegs schaute man auch in Poserna bei Seumes Mutter vorbei: She »did not express much delight at seeing her Son who on his part seemed to be cold and indifferent«.
Gleichwohl schrieb Seume Anfang Februar 1802, nun schon in Venedig, an Gleim:
»Es hat mir niemand ein größeres Fest machen können, als wenn er mit mir zu meiner Mutter ging oder fuhr.«
Weil ihm das lieber war, als ihr allein gegenüberzutreten? Eine Bemerkung in einem Brief an Göschen vom Oktober 1800 hört sich ganz danach an:
»Den Sonnabend der Zahlwoche geben Sie mir wohl eine freundliche patriarchalische Herberge; und desto besser, wenn wir den Sonntag zusammen zu meiner Mutter wallfahren können.«
Im August 1803 wiederum schlug er Garlieb Merkels Angebot einer redaktionellen Mitarbeit am Freimüthigen in Berlin mit der Begründung aus, weder die Stadt noch das Geld locke ihn, außerdem sei es seiner alten Mutter ein Bedürfnis, ihn »alle Vierteljahre einmal zu sehen«. Als August von Kotzebue, der Mitherausgeber der Zeitschrift, nachhakend eine Redakteursstelle anbietet, antwortet Seume:
»Außer den Gründen, die ich meinem Freunde Merkel schon angeführt habe […] würde mir auch die sitzende Lebensart nicht bekommen. […] Die stärkste Ursache meines Hierbleibens ist unstreitig, weil es mir Pflicht ist, mich ohne Not nicht zu weit von meiner alten Mutter zu entfernen, für welche meine Nähe Beruhigung ist, und die ich von Berlin aus vielleicht kaum würde wiedersehen können.«
Schon im Sommer 1799 war es die Mutter gewesen, die Seume – einstweilen – zu Hause hielt, als er unglücklich in der Liebe zu Wilhelmine Röder und unzufrieden im Dienst Göschens an der Kette zerrte:
»Ihnen die Wahrheit offenherzig zu bekennen, muss ich sagen, dass mein Geist ziemlich unruhig wird, etwas wieder in die Welt hineinzuschauen. Meine alte Mutter fesselt mich, und ich ehre und liebe das Band. […] Nächst dieser ist fast niemand, den ich kindlicher ehrte und liebte als meinen guten Vater Gleim.«
Gleim zeigte sich gerührt und verglich Seume ausgerechnet mit Friedrich den Zweiten von Preußen, den er »seinen Einzigen« zu titulieren pflegte:
»Diesen Augenblick, Morgen zehn Uhr, erhalt ich, lieber braver Mann, Ihr Schreiben […] Dass dieser liebe Mann seine alte Mutter mit solcher Kindesliebe, wie mein Einziger die Seinige liebte, liebt, das macht ihn mir zu einem Ähnlichen meines Einzigen.«
In den Apokryphen , entstanden zwischen April 1806 und Juli 1807, macht Seume im Rückblick auf sein glückloses Leben und die beiden unglücklichen Lieben zu Wilhelmine Röder und Johanna Loth die trübe Bemerkung:
»Wenn meine Mutter nicht wäre, lebte ich wahrscheinlich nicht mehr; denn es gehört eine große Pflicht dazu, um diese allgemeine Weggeworfenheit zu dulden.«
Hexe Hip
Einem Rosenmädchen hat er seinen Namen aufs Näschen verab-seumt. Zum Mädchen aus Marmor hob er den Blick »von süßem Rausche trunken«. Aber Melancholia schmiegt er sich in die Arme zum »süßen traurigen Vergnügen«. Im Gedicht An die Schwermut blickt das lyrische Ich, wie es germanistisch korrekt heißen muss, auch wenn dieses Ich ohne jeden Zweifel das verzweifelte von Seume selber ist – dieses Ich also schaut an der Seite der »Göttin mit dem tiefen schwarzen Schleier« herab auf Menschenwerk und Menschheitsgeschichte: Blinder Potentatenehrgeiz häuft »Knochenhügel« auf, von den »Klostertürmen« funkelt »des Aberglaubens Gaukelei«, an »umgeworfnen Leichensteinen« weinen die Waisen, »der Armen Kummerschweiß« düngt die Gärten, »wo der Schwelger singet«. Überall Mord und Totschlag, Unterdrückung und Raub, Krieg und Verheerung, Brand und Zerstörung.
Seumes Blick auf die Geschichte ist der des Spätaufklärers. »Führe mich zu deiner Abendfeier«, heißt es in der ersten Zeile des Gedichts. Die Sonne der Aufklärung geht unter, aus dem Halbdunkel tritt das Grauen hervor. Der Fortschritt ist über Leichen gegangen, der Optimismus war eine Narrenlehre, das Licht der Erkenntnis flackert trübe. Die Neuzeit ist alt geworden und die Zukunft längst vergangen.
»Leite mich, Geliebte, wenn ich sinke,
Dass ich Kraft aus deinem Auge trinke,
Wenn der Zweifel wühlend auf mich rückt,
Wenn ich vor dem großen Vorhang stehe,
Und mit Zittern in die Tiefe sehe,
Dass mich nicht Verzweiflung niederdrückt.«
Das ist historisch und politisch zu
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