Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
Schusters Rappen unterwegs ist, nicht mit Kutschen durch die Gegend fährt, der schlecht und recht mit Worten handelt, nicht mit Seide, wie der erfolgreiche Rivale.
Die Heirat zwischen Wilhelmine und dem hugenottischen Kaufmannssohn George Henri Favreau lag bereits fünf Jahre zurück, als der Spaziergang im Mai 1803 bei Hartknoch erschien. Und noch in Mein Sommer findet sich eine Reminiszenz an Wilhelmine, obwohl die (fort)treibende Kraft dieser Reise Johanna Loth gewesen ist. Johanna muss aber erst ausgerechnet werden, was nur den Eingeweihten unter Seumes Leserinnen und Lesern möglich war:
»Jeder Mensch hat seine eigenen Heiligentage […] Ehemals war einer meiner großen Heiligentage der fünf und zwanzigste April [Wilhelmines Geburtstag]. Die Ursache liegt bei mir ziemlich tief in der Sakristei der Seele, die ich Dir gelegentlich wohl aufschließen kann. Der Aprilheiligentag ist nun etwas obsolet geworden, vermutlich weil er – April war; nicht eben durch meine Schuld. Nun überraschte mich ein solcher Tag [also ein anderer ›Heiligentag‹] in Holkaberg. Du kannst zwischen dem fünf und zwanzigsten und siebzehnten [am 17. September hatte Seumes Mutter Geburtstag] aussuchen, welchen Du willst, und wirst in der Mitte wohl nicht sehr irren.«
Zieht man vom Geburtstag Wilhelmines vier Tage ab oder zählt man zum Geburtstag der Mutter vier Tage zu, ergibt das den einundzwanzigsten, und am 21. August hatte Johanna Loth Geburtstag.
Wie mögen Wilhelmine und ihr Mann diese Passage aufgenommen haben? Allerdings hatten beide schon ganz anderes von Seume zu hören und zu lesen bekommen: Wilhelmine Liebesbriefe und Vorwürfe, ihr Mann eine unverschämte Epistel mit Belehrungen. Anfang Dezember 1796 reimt Seume vor dem Schlafengehen (»es ist recht spät, und ich bin recht müde«):
»Und wenn ich hundert Jahre schriebe
Ich schriebe doch Dir nichts als Liebe.
Der Puls, der Dir nicht Liebe schlägt,
Der Wunsch, der mich zu Dir nicht trägt,
Gehöret nicht zu meinem Wesen,
Ist meiner Seele fremd gewesen.
Die Liebe nur belebt mein Herz
Und hebet froh es himmelwärts;
Die Liebe, die Du mir zum Leben
Und für die Ewigkeit gegeben.«
Die Ewigkeit dauerte indessen bloß hundert Tage. Auf wenige Wochen Seligkeit folgten für Seume Tage selbstmörderischer Düsternis und Jahre verzehrender Trauer. Es hat den Anschein, als sei die Liebe für Seume eine Erlösung von sich selbst gewesen, eine Öffnung zum Leben hin.
»Jetzt Wilhelmine, lieb ich Dich
Und alles wird nun froh um mich.«
So reimt er in einem weiteren Briefgedicht und verrät mit dem Wörtchen »nun« die unfrohe Wahrheit, wie er sich vor seiner Liebe zu Wilhelmine in der Welt fühlte. Ungefähr zur gleichen Zeit erkundigt er sich bei Göschen, wie er es anstellen solle, eine bürgerliche Existenz zu gründen. Allein würde er »sorglos den Strom der Welt hinunterschwimmen […] ohne Hoffnung und Furcht«, wie er in seinem gekünstelten Stoizismus gern und allzu gern beteuert. Hätte er »die Wahl gehabt«, bekennt er, »hätte ich wohl meine Freiheit behalten und mich um die ganze Weiberwelt nichts bekümmert«. Aber nun:
»Ich liebe: ich hätte nie geglaubt, mich je mit festem Ernst in einem solchen Falle zu finden. […] Ich bin arm, habe nichts als meine Ehrlichkeit; aber darauf bin ich stolz, vielleicht etwas zu sehr. Solange ich allein da stand, war dieses wohl gar nicht zu tadeln. Wenn ich mich aber in Verbindung mit mehrern Personen denke, die ich sodann durchaus in keiner Rücksicht von mir trennen kann, so möchte dieses Gefühl mir manche Streiche spielen. Mein Mädchen ist ziemlich reich, eine Qualität, die sonst die Liebhaber eben nicht in Verlegenheit setzt, die mir aber viele Unruhe macht. Was soll ich tun?«
Für eine akademische Laufbahn fehle es ihm an gründlichen Kenntnissen und an der dafür unvermeidlichen »Biegsamkeit«; das »Soldatenwesen taugt für Familienverhältnisse noch weniger«; nach Russland will er trotz seiner alten Verbindungen nicht gehen, denn dort treibe »nur dann und wann ein Fragment von Menschlichkeit auf dem Ozeane der Barbarei« herum.
»Ich habe eine Menge Entwürfe gemacht, und sie wieder verworfen. Nun ist mir der Gedanke eingefallen, Buchhändler zu werden. […] Es ist mir nicht um den Buchhandel, nicht um Geld, nicht um Ruhm, ich bin sehr offenherzig, um nichts zu tun, als um das Mädchen; und nur darum um ein leidliches Auskommen zu einer sehr frugalen Ökonomie.«
Auch in einem Brief an Wilhelmine
Weitere Kostenlose Bücher