Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
Seume, er meint: im Unterschied zum Dichter] nichts wagt, wenn auch jede Zeile meiner Hand gedruckt wird. […] Um den gewöhnlichen Beifall bekümmere ich mich nicht viel und um die Kritiker noch weniger, da ich bloß dem Bedürfnis meiner Seele lebe.«
Gegen Ende des Briefes kommt er noch einmal auf Münchhausen zu sprechen:
»Münchhausen ist mir durch den Sturm der Zeit entrückt, und die Männergedanken über diesen Gegenstand sind zu schwarzer Farbe, als dass es für mich oder ihn gut sein sollte, darüber eine neue Mitteilung anzustimmen. Er lebt freundlich in meinem Geiste, wie ich hoffentlich in dem seinigen.«
Arnoldine Wolf hat die Gedichte nach Seumes Tod in einem der damals beliebten Jahresalmanache veröffentlicht. Er trug den Titel Taschenbuch für das Jahr 1811. Der Liebe und Freundschaft gewidmet . Der Gedichtwechsel erinnert ein wenig an den lyrischen Dialog der Rückerinnerungen so viele Jahre zuvor.
Dessen Kerngedicht, Seumes Abschiedsschreiben , fiel Veit Schnorr von Carolsfeld in die Hände, und Schnorr wurde einer jener seltenen Freunde, mit denen Seume nicht bloß poetisierte oder abenteuerte, sondern auch alltäglichen Umgang hatte. Der nur wenig jüngere Schnorr fungierte sogar als Liebesbote (zwischen Wilhelmine und Seume) und Geldbote (zwischen Göschen und Seume).
In seinen Erinnerungen berichtet er, wie ein Bekannter ihn auf ein Heft von Schillers Horen (Schnorr verwechselt sie mit Schillers bei Göschen erscheinender Neue Thalia , die das Abschiedsschreiben 1792 gedruckt hatte) aufmerksam machte: »Dieses Gedicht ergriff und bewegte meine Seele gewaltig. […] Und – was Seume sagte, – schien mir so wahr aus einem von tiefer Einsicht für Humanität und Menschenwert erfüllten Herzen in großer Kraft hervorgegangen zu sein; an Gedicht und Kunst dachte ich gar nicht. Mit einem Worte; ich hatte von diesem Moment an keinen anderen Wunsch, als den Verfasser persönlich kennen zu lernen.«
Seume scheint es bei Schnorr im Unterschied zu Münchhausen nicht gestört zu haben, dass auch Schnorr nicht »vor dem Weibe« geflohen war. Jedenfalls ist Seume nett genug, seinem frischen Freund zu schreiben:
»Sie müssen durchaus ein großer Künstler werden, da Sie enthusiastisch glücklich geheiratet haben. Wenn ich ein Nebengeschöpfchen dieser Art in meinem Vaterlande fände, so könnte ich auch wohl noch Buße tun et numen agnoscere [das ›göttliche Wirken anerkennen‹] Aber da habe ich Dummkopf nun nichts gelernt, ein Weib zu ernähren.«
Diese vernünftige Selbsteinschätzung hielt Seume nicht davon ab, sich Hals über Kopf in Wilhelmine zu verlieben, und Schnorr nicht, den Liebesboten zwischen dem »reichen Mädchen« und seinem armen Freund zu spielen. In seinen Erinnerungen schreibt er: »Ich gab in R[öders] Hause [Zeichen-]Unterricht und musste das Abgeben der wechselnden Briefe übernehmen. – Mein Freund drang mehr als einmal in das heißgeliebte Mädchen, den Vater von diesem Verhältnis in Kenntnis zu setzen, oder es ihm selbst zu gestatten. – Allein Wilhelmine wusste ihn immer noch zu beschwichtigen: noch sei es nicht ratsam. – Der Mann litt furchtbar dabei; da heimliches Wesen seiner ganzen Seele zuwider war. – Und doch musste er nachgeben. – Wilh. war wirklich ein interessantes Wesen. Aus ihren schwarzen Augen leuchteten Geist und Tiefe.«
Anders als mit Schnorr, dem Seume endlich einmal wohltuend normalmenschlich verbunden gewesen zu sein scheint, pflegte er mit Garlieb Merkel eine eklatant politische Freundschaft. In einer Rezension von dessen aufsehenerregendem, 1797 in Leipzig erschienenen Buch Die Letten vorzüglich in Liefland am Ende des philosophischen Jahrhunderts erzählt Seume von dieser Freundschaft:
»Wir schlossen uns in Leipzig bald an einander an, fanden uns zusammen wohl, nahmen uns beide einander als ehrliche Leute, stritten und vereinigten uns über manche Dinge, oder blieben freundschaftlich nach verschiedenen Gründen verschiedener Meinung.«
Merkel und Seume empörten sich über die gleichen Missstände, vor allem was die Privilegien des Adels betraf, und äußerten ihre Kritik in ähnlicher Schärfe. In ihrer Gemütslage waren sie ebenfalls Wahlverwandte, beiden drückte die Schwermut aufs Herz, beiden saß Hexe Hip auf der Schulter. Vielleicht hat niemand Seumes innere Verfassung besser verstanden als Merkel. In seinem dreißig Jahre nach dem Tod des Freundes publizierten zweiten Band der Darstellungen und Charakteristiken aus
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