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Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Titel: Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Preisendörfer
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meinem Leben schrieb er über dessen persönliche wie politische Haltung: »Seumes Charakter gehörte zu den reinsten, edelsten, festesten, die ich gekannt habe; aber er war zugleich derjenige, an dem mir der Unterschied zwischen Stärke und Kraft, das heißt zwischen dem Vermögen, zu widerstehen, und jenem, zu wirken oder zu schaffen, am hellsten eingeleuchtet hat.« Dann erzählt Merkel eine treffliche Anekdote: »In einem unserer vertrauten Gespräche macht’ ich ihm einst freundschaftliche, ziemlich lebhafte Vorwürfe darüber, dass er in allen Verhältnissen seines Lebens immer und immer nur damit beschäftigt gewesen sei, seine moralische Individualität zu retten. Ich ging so weit, zu behaupten, dass es Grösse sei, allenfalls selbst jene Individualität der Ausführung einer großen wohltätigen Idee zu opfern. Er stritt heftig; endlich aber schüttelte er mit jener sonderbaren Weise, die seine Freunde wohl alle an ihm gekannt haben, murrend den Kopf und rief: ›Lassen Sie mich in Ruhe! Ich gehöre nun einmal zu den Menschen, die nur: Ich will nicht! sagen können.‹«
    Das bekam auch Göschen zu spüren, als Seume definitiv nicht mehr in die Offizin in Grimma, sondern bloß noch nach Italien wollte. Der Verleger war einer der geduldigsten, ausdauerndsten und verständnisvollsten Freunde, die Seume jemals hatte, obwohl es die Freundschaft zwischen einem Untergebenen und seinem Chef gewesen ist. Und im Unterschied zu Vater Gleim oder zum Jugendfreund Münchhausen bekam Göschen es nicht nur mit den teils melancholischen, teils schnurrigen Briefen Seumes zu tun, sondern mit dem Mann selbst und seinem »Murrsinn«, wie Seume es – nur halb bedauernd – ausdrückt, mit seiner das Unhöfliche mehr als streifenden Schroffheit und seiner überstrapazierten, wie ein Abwehrschild vor sich her getragenen Aufrichtigkeit.
    Seume hatte bei Göschens Familienanschluss, er wurde auch nach Beendigung des Angestelltenverhältnisses unterstützt, und er stieß bei dem vielbeschäftigten Verleger stets auf ein offenes Ohr. Dafür hatte dieser Verleger dann das letzte Wort – und ließ sich nicht nehmen, es in der Fortsetzung von Seumes Mein Leben auch zu schreiben. Sogar über Seumes militärischen Chef, General Otto Heinrich von Igelström: »Igelström und Seume! Das war eine Verbindung eigener Art. Der alte Hof- und Staatsmann war üppig, prachtliebend, sinnlich, verständig und klug; aus Diensteifer ein tüchtiger politischer Despot, übrigens ein braver Soldat, großmütig und gutmütig. […] Diesem Manne stand Seume zur Seite, wie wir ihn kennen; Seume, der immer die Wahrheit unverhohlen sagte und von den polnischen Angelegenheiten ganz andre Ansichten hatte, als der General und die Kaiserin. Demohngeachtet bewies Igelström seinem Sekretär privatim und öffentlich die größte Achtung und ein aufrichtiges Wohlwollen.«
    Was hier der literarische Chef über den militärischen schreibt, beruht sicher auf dem, was Seume über den militärischen Chef dem literarischen erzählt hatte. Zwischen beiden lagen Welten. Der General war Seume anders als der Verleger nicht bloß familiär und finanziell überlegen, sondern von einem Rang und Namen, der einen sächsischen Bauernjungen, studiert oder nicht, trotz allen persönlichen Wohlwollens sozial zu einem Niemand machte. Igelström entstammte einer deutsch-baltischen, ursprünglich schwedischen Familie, war mit einer Polin verheiratet, machte aber trotz seiner polnischen Verbindungen im russischen Militär Karriere.
    Seume arbeitete Anfang der 90er Jahre in Leipzig als Erzieher von dessen Neffen Gustav Andreas. Nach dem Abschluss des zweiten Studiums mit einer lateinischen Schrift über die Bewaffnung bei »den Alten«, gewidmet Johann Jakob Igelström, dem Vater seines Zöglings und Bruder seines künftigen Chefs, reiste er im August 1792 nach Riga und von dort ins russische Pleskow, wo er beim General eine Adjutantenstelle annahm. Das erscheint heute ungewöhnlicher als es damals war. Hatte nicht dreißig Jahre zuvor sogar ein Lessing als Sekretär eines Generals gedient, wenn auch eines preußischen und in Breslau?
    Als Igelström zum Oberkommandierenden der russischen Besatzungstruppen in Warschau ernannt wurde, begleitete ihn Seume und widmete ihm die in Warschau erschienene Schrift über Prüfung und Bestimmung junger Leute zum Militair . Nach der Niederschlagung des polnischen Aufstandes arbeitete er mit Igelström an einer Denkschrift für Zarin Katharina, um

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