Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
Igelströms Verhalten zu rechtfertigen. 1795 sollte er im Auftrag Igelströms den schwer kranken jungen russischen Major Muromzow auf einer Reise nach Italien begleiten. Die von Napoleon durcheinandergewirbelten Verhältnisse in Italien erzwangen den Abbruch der Reise in Leipzig.
Zehn Jahre später sucht Seume den General in Riga auf, wird jedoch nicht empfangen, wie er in Mein Sommer 1805 erzählt:
»Ich ließ mich melden, bloß um dem alten Herrn als meinem ehemaligen Chef meine Achtung zu bezeigen: eine andere Absicht konnte ich durchaus nicht haben.«
Hinter einem Dementi steckt immer die Furcht, oder zumindest die Vorsicht. Seume scheint zu fürchten, die Leser könnten doch »andere Absichten« vermuten. Immerhin war ein Ziel der Reise von 1805 auch das Erwirken einer Pension für seine russische Dienstzeit. Allerdings hätte in dieser Sache Igelström ohnehin nichts für Seume tun können.
»Er ließ mich ziemlich lange stehen und mir endlich sagen: Er sei krank; wenn er wohl sein werde, wolle er mich sehen. Sein Arzt und sein Neffe hatte mich vorher seines hinlänglichen Wohlseins versichert. Ich ging und kam natürlich nicht wieder; denn ich war nicht hingegangen, um den Hof zu machen.«
Der frühere Untergebene zeigt sich gekränkt von der Krankheit des Chefs, über dessen »hinlängliches Wohlsein« er sich »versichert« glaubt, und erinnert auf der Stelle an seine früheren Verdienste:
»Es war eine Zeit, wo er mir alle Geheimnisse seiner öffentlichen Ämter und seiner Privatverhältnisse anvertraute, ein Vertrauen, das ich nie missbrauchte, wo ich wochenlang an seinem Bette saß und arbeitete, wo er mich wie einen vertrauten Freund behandelte und sich dann mit meinen Papieren vor der Monarchin rechtfertigte.«
In einem langen Lehrbrief, den Seume 1792 nach der Beendigung seiner Hofmeisterstelle an den jungen Igelström richtete, erteilte er neben vielen anderen Ratschlägen auch diesen:
»Begegnen Sie immer Ihren Untergebenen und Bedienten mit Güte und Freundlichkeit, selten oder nie mit Vertraulichkeit und Freundschaft.«
Der General ging mit Seume nicht so um, wie dieser dem Neffen einst den Umgang mit Untergebenen empfohlen hatte. Zur echten Freundschaft zwischen dem Leutnant ohne Stand und dem General von altem Adel konnte es dennoch nicht kommen.
Pedrillo
oder
Zwischenspiel über Ressentiment
In Wielands heiter verspieltem Roman Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva , in erster Fassung 1764 und in einer Ausgabe letzter Hand 1795 im Rahmen der von Göschen publizierten Werkausgabe erschienen, erlebt ein junger Mann in Spanien allerhand Geschichten mit Feen und Zauberern, die sämtlich in seinem Kopf stattfinden, so ähnlich, wie im Don Quijote ein alter Knabe allerhand Geschichten mit Rittern und Ungeheuern erlebt. Was dem einen Don sein Sancho Pansa, ist dem anderen sein Pedrillo. Nur mit dem Unterschied, dass Sancho Pansa im Laufe der Begebenheiten nicht nur an Leibesfülle, sondern auch an persönlichem wie literarischem Format zunimmt, während Pedrillo der lustige Luftspringer bleibt, der er von Anfang an war. Wie in der Oper das Buffo-Paar, soll er für Erholung zwischen den Belehrungen sorgen und sich nach hochgestimmten Passagen am Kopf (oder weiter unten) kratzen. Das Publikum ergötzt sich immer an den Pedrillos, macht sich aber nie mit ihnen gemein. So ist es in der Wirklichkeit, und so ist es im Roman, erläutert der Erzähler: »Pedrillo kommt also oder geht, plaudert oder schweigt, ist geschäftig oder müßig oder gar unsichtbar, je nachdem es die Natur seines Dienstes oder sein Verhältnis gegen seinen Herrn mit sich bringt. Da er ihn auf seiner wundervollen [= wunderbaren] Wanderschaft begleitete, so hatte er das Recht zu plaudern, wie und was er wollte, so lange Don Sylvio keine bessere Gesellschaft hatte; und er tritt ab und zieht sich in die Lakaien-Stube […] zurück, so bald sein Herr bessere Gesellschaft hat.«
War Seume nicht von seinem Herrn, General Igelström, wie ein »vertrauter Freund« ans Bett gerufen worden, als man ihn brauchte, und später in Riga, als man ihn nicht mehr brauchte, im Vorzimmer stehen gelassen worden? Durfte Seume nicht in Leipzig Ellbogen an Ellbogen mit Söhnen aus besserem Haus die Schulbank drücken und wurde daheim beim Rektor Martini doch von der Magd verköstigt?
Die Pedrillos in den Romanen und die Papagenos auf der Opernbühne spüren die Demütigungen nicht, die ihnen zugefügt werden, und dürfen sie nicht spüren, das
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