Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
wäre dem höheren Publikum zu rebellisch. Wenn man im wirklichen Leben in die »Lakaien-Stube zurück geschickt« wird, fühlt sich die Sache anders an. Es senkt sich ein Stachel in die Seele, der nur schwer wieder herauszuziehen ist.
Ressentiments haben immer die Schwachen: Ressentiments hat der kleine Mann angesichts des Großen, hat der Bürger im Vorzimmer des Edelmanns, der Hofmeister in der aristokratischen Kinderstube, der gemeine Soldat ohne Aussicht aufs Offizierspatent, der ränzeltragende Wirtshauswanderer mit höheren geistigen Ansprüchen, der zweitrangige Schriftsteller bei Audienz im Weimarer Olymp, der Korrektur lesende Handlanger im Umgang mit der betreuten Koryphäe, der Fußgänger beim Beiseitespringen vor heranpreschenden Herrenreitern, der chancenlos in reiche Mädchen verliebte Habenichts, der todkrank um sein Leben schreibende Autor.
Seume hat sich in allen diesen Rollen gefunden, präziser müsste es heißen: verloren. Und aus allen hat er sich wieder herausgewunden, nur aus der letzten nicht. Vor dem »Mörder aller Leute«, wie einst der »Ackermann aus Böhmen« dem »Schnitter Tod« fluchte, hat jeder Ressentiment, der noch ein bißchen leben will – doch entkommt ihm keiner. Seume hat gern so getan, besonders, wenn er gerade unglücklich verliebt war, als wäre der Tod ein Freund, dem man erschöpft in die Arme sinkt, wenn man nicht mehr weiterweiß und kaum noch weiterkann. Aber das war Theorie – oder Poesie, und schlecht gereimte noch dazu.
Glückliche Menschen leiden selten an den sogenannten Verhältnissen, mögen diese Verhältnisse auch nicht aufs Beste bestellt sein. Erst wen die Lebensumstände unglücklich machen, ergreift das Leid; erst wen das Dasein glücklos lässt, drückt der Jammer nieder. Mit den dramatisch Unglücklichen haben die Glücksbegabten gerne Mitleid, denn wer kann schon etwas für sein Schicksal. Die gewöhnlichen Glücklosen indessen werden beargwöhnt, um sie herum liegt immer der Verdacht in der Luft, sie seien selber schuld – an sich, an dem, was ihnen fehlt, und daran, wie sie sich immerzu haben und wie sie sich geben.
Sagt ein Glückloser und Unfroher seine Meinung über glücklose Verhältnisse, lässt sich die unfrohe Botschaft leicht mit der Unterstellung desavouieren, sie resultiere aus dem unguten Naturell dessen, der die schlechte Botschaft bringt. Aber diese Anlastung von Ressentiments hat selber welche. Und eine Wahrheit, die ein bitterer Mund sagt, wird dadurch nicht zur Lüge.
Seume war mit dieser psychologisch-politischen Gefechtslage bestens vertraut. In seiner Rezension von Garlieb Merkels Letten schrieb er:
»Dem guten Mann Merkel wünsche ich aus Freundschaft für ihn, und noch mehr aus allgemeiner Menschenfreundschaft, vorzüglich ein immer stetes festes Wohlbefinden, ununterbrochen durch Verdruss, Grille und Misslaune; damit nicht seine und seiner Sache Feinde den Prätext nehmen, ihn zu beschuldigen: die Hypochondrie habe aus ihm gesprochen. Dieser Gedanke sollte ihn doppelt aufmerksam auf sich selbst machen. Sie wissen, wie sehr man geneigt ist, die Person mit der Sache zu vermengen, wie sehr man zumal bei Punkten dieser Art das Publikum mit Glaukomen und Sophismen zu bestricken sucht.«
Seume schickte die Rezension an Böttiger, der damals Wielands Neuen Teutschen Merkur redigierte. Böttiger schien die Sache und vor allem die Sprache zu heiß zu sein, denn sie prangerte die Lebensverhältnisse der Bauern in den baltischen Staaten, in Russland und in manchen deutschen Fürstentümern als sklavisch an. Merkel wiederum glaubte, der Artikel würde sich nachteilig für Seume selbst auswirken. Der Text blieb unveröffentlicht. Seume bedauerte das in einem Brief an Böttiger, doch wurden durch den Vorgang die Freundschaft mit Merkel und die guten Beziehungen zu Böttiger nicht belastet. Auch in einem Brief an Gleim – in ebenjenem, in dem er dessen Vorschlag ablehnte, in Preußischen Dienst zu treten – äußerte er sich über Merkel:
»Von diesem wünsche ich vorzüglich, dass er sich wohl befindet; denn sonst sagen seine und seiner Sache Feinde, der Mann habe alles aus Hypochondrie getan. Seine Letten sind ihm gewiss bekannt. […] Merkel zeigte mir seine Papiere und fragte mich um Rat. […] Ich teilte ihm noch einige kleine Bemerkungen mit und sagte: wenn Sie Mut haben in das Wespennest zu stoßen, so ist das brav: aber es kann Ihnen Ihr Vaterland kosten. Darauf war er gefasst. Sein Supplement ist ziemlich heftig und
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