Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
»Menschenhasser« werde, lastete epochales Gewicht. Viele Briefe und Bücher wurden über Freundschaftsthemen geschrieben, viele Zeitschriften konkurrierten um Abonnenten. Die ›Menschenfreundlichkeit‹ brachte es sogar zu allen drei titelmöglichen Varianten: Der Menschenfreund (Hamburg 1737–39), Der Mensch (Halle 1751–56), Der Freund (Ansbach 1754–56). Allerdings erschien auch ein Hypochondrist auf dem literarischen Marktplatz, aber nur kurz, 1762, und nur im nordisch gemütsdüsteren Schleswig.
Auch Bücher sollten Freunde sein oder welche werben. Ölgemälde und Scherenschnitte hielten Freundesantlitz und Freundschaftsprofil gegenwärtig. Die Pfarrer predigten von Freundschaft. Die Pietisten trieben die Innerlichkeit auf die Spitze und wurden mit dem Jesuskind intim, die Pädagogen wollten Freunde ihrer Schüler sein. Erziehungsanstalten, die aus Kindern lesende Menschen machen sollten, zum Beispiel durch das Verfüttern von Lebkuchenbuchstaben, gaben und nannten sich philanthropisch. 1774, im gleichen Jahr, in dem Goethe mit den fingierten präsuizidalen Briefen Werthers an einen Freund zum literarischen Star avancierte, gründete Johann Bernhard Basedow in Dessau die Erziehungsanstalt Philanthropinum und veröffentlichte sein mit prachtvollen Kupferstichen von Chodowiecki geschmücktes vierbändiges Elementarwerk . Dieses philanthropische, ›menschenfreundliche‹ pädagogische Kompendium annonciert sein Programm schon in seinem Untertitel: »Ein geordneter Vorrat aller nötigen Erkenntnis. Zum Unterricht der Jugend, von Anfang bis ins akademische Alter, zur Belehrung der Eltern, Schullehrer und Hofmeister, zum Nutzen eines jeden Lesers, die Erkenntnis zu vervollkommnen.«
Der Dichter Gleim pflegte ebenfalls den Freundschaftskult und richtete in einem Zimmer seines Hauses in Halberstadt einen ›Freundschaftstempel‹ ein. Er sammelte Porträts von Zeitgenossen, mit denen er korrespondierte, und wenn er einen seiner zahlreichen Briefe zu schreiben hatte, rückte er das Schreibpult vor das Bild, das vom Adressaten an seiner Wand hing.
Göschen wiederum ließ einen Freundschaftspavillon in den Hohenstädter Hauspark setzen, und wenn Besucher die Treppe zu ihm emporstiegen, hatten sie die Giebelinschrift »Amicitiae« im Blick: »der Freundschaft«.
Der symbolische und emotionale Überschuss, der das Knüpfen und Pflegen von Freundschaften über das auch damals schon übliche ›networking‹ hinaus ins Kultische trieb, rührte von einem Mangel her: von einem Mangel an offenen Herzen und offenen sozialen Räumen. Das gesellschaftliche System aus der alten Zeit wurde Menschen mit neuen geselligen Bedürfnissen zu eng. Was politisch nicht zu überwinden war, wurde persönlich überspielt. Der wahre Menschenfreund weiß im freundschaftlichen Umgang die sozialen Schranken zu heben. Aber oft sollten diese Schranken eben nur gehoben, auf keinen Fall abgeschafft werden. Man wollte mehr Humanität bekommen und doch seine Privilegien behalten. So wurde das, was sich in der Unschuld der frühen Tage als Menschlichkeit Bahn brach, im Lauf der Jahre ritualisiert und in Konventionen gebannt. Die Empfindung verkünstelte zur »Empfindeley«, Schwärmerei erstickte das wahre Gefühl, und Affektiertheit umrauschte den Einklang der Herzen wie ein Ballkleid die schmale Taille der Tänzerin.
Der tatsächliche, wirkliche Freund aus Fleisch und Blut verschwand hinter dem Bild, das sich die Einbildungskraft von ihm machte. Der nicht präsente Freund war der präsentabelste. Karl Philipp Moritz, einer der großen Bekenner der Literatur des 18.Jahrhunderts und in seinen Selbstauskünften direkter (und naiver) als Rousseau in den literarisch meisterhaft inszenierten Bekenntnissen , brachte die seelische Spannung, die zwischen Abwesenheit und Präsenz des Freundes entstehen kann, recht trocken auf den Punkt. In dem von ihm gegründeten Magazin zur Erfahrungsseelenkunde , der ersten empirisch-psychologischen Zeitschrift im deutschen Sprachraum, heißt es: »Der abwesende Freund ist mir mehrenteils wichtiger und interessanter, meine Empfindungen für ihn zärter, zuweilen gar enthusiastisch, als der Freund, mit dem ich eben spreche.«
Das freundschaftliche Wort nahm leicht überhand, wenn man die Feder ergriff, um es auf Brief- oder Manuskriptblätter zu schreiben, kam aber nur schwer über die Lippen, wenn es darum ging, es vor einem anwesenden Gegenüber in den Raum zu stellen. Denn dort stand es dann ungeschickt herum und
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