Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
Schatten von Freiheit, kein sicheres Eigentum und arbeiten nicht für sich und die Ihrigen, sondern nur für ihre Tyrannen.« Was für eine Rhetorik, vorangetrieben vom Schwungrad des Mitleids.
»Wohl freilich sind die Bauern zum Teil so hartnäckige, zänkische, widerspenstige und unverschämte Geschöpfe, dass sie aus der geringsten Wohltat eine Schuldigkeit machen, dass sie nie zufrieden sind, immer klagen, immer mehr haben wollen, als man ihnen zugestehn kann.« Was für eine Ausdrucksweise, durchdrungen vom Gestus des Hochmuts.
Die beiden Passagen scheinen weit auseinander zu liegen, doch stehen sie nah beisammen nur durch einen Zwischenabsatz getrennt in Knigges Über den Umgang mit Menschen . Das ist keine Bizarrerie, so wenig wie das Buch insgesamt, dem es nicht an schönen Sätzen, aber an originellen Ideen mangelt. Darin liegt sein heutiger Wert. Es plaudert aus, was aufgeklärte Leser um 1800 über das Leben und die Leute zu denken pflegten, auch über das Leben der einfachen Leute auf dem Land. Man bemitleidet und bedauert, zugleich verachtet man und höhnt. Die aufgeklärte Minderheit in den Städten beklagte menschlich und moralisch die Verhältnisse, in der die Mehrheit auf dem Lande lebte, und hatte politisch und sozial doch Angst vor dem, was kommen mochte, sollten diese Verhältnisse sich ändern.
Zwischen sechzig und achtzig Prozent der Bevölkerung lebten in Preußen, in Kursachsen, in Sachsen-Weimar und in den anderen sächsischen Mini-Fürstentümern auf dem Land. Nur der kleinere Teil davon waren tatsächlich Bauern, die eigenen oder gepachteten Boden bearbeiteten. Es überwogen die unterbäuerlichen Kleinbesitzer und die landlosen Arbeitskräfte. Sie alle sind gemeint, wenn in den zeitgenössischen Publikumsschriften vom »Bauer« oder vom »Landmann« die Rede ist.
Um 1800 war die Landbevölkerung in Sachsen rund tausend adeligen Grundherren unterworfen. Sie besaßen das Land, kontrollierten die Kommunalverwaltung, übten die Gerichtsbarkeit aus und führten die Polizeiaufsicht. Der »Landmann« befand sich je nach Stellung in der durchgestuften Hierarchie in enger persönlicher oder durch Zwischenstufen vermittelter Abhängigkeit vom jeweiligen Herrn. Kein »Bauer« war frei, und auch wenn es die Leibeigenschaft als Rechtsinstitut nicht gab, waren die Abgabenlasten zusammen mit dem Arbeitszwang auf den Äckern, in den Gärten, an den Häusern des Adels so groß, dass Kritiker ganz allgemein von »Sklaverei« sprachen und schrieben. Das mochte soziologisch, juristisch und historisch falsch sein, bezog seine Berechtigung aber aus der soziologischen, juristischen und historischen Perspektive, dass kein Mensch unter keinen Bedingungen zu keiner Zeit einem anderen gehören und nur für diesen anderen abeiten soll. Aus dieser Perspektive heraus argumentiert auch Seume:
»Sklaverei lässt gar keinen Begriff öffentlicher Gerechtigkeit zu; und es ist doch die Sklaverei, was der ganze Adel so fest hält; nämlich die Sache, denn das verhasste Wort sucht man zu vermeiden.«
Neben den ethischen Einwänden lassen sich auch ökonomische und machtpolitische formulieren. Friedrich der Große von Preußen schrieb als Kronprinz im Anti-Machiavell , bevor er zur Herrschaft kam und machiavellistisch wurde, »dass ein König, dessen ganze Staatskunst nur darauf hinausläuft, dass man ihn fürchte, ein Herr über Sklaven sein wird; großer Leistungen darf er sich von seinen Untertanen nicht versehen, denn was in Furcht und Zagen geschieht, das sah noch immer danach aus.« Katharina die Große von Russland schrieb Mitte der 1760er-Jahre: »Der Ackerbau kann da nicht blühen, wo der Ackerbauer oder Arbeiter nichts sein eigen nennt. Jeder Mensch sorgt besser für das, was ihm gehört, als für das, was einem anderen ist, er sorgt gar nicht für etwas, was ihm genommen werden kann.«
Gut drei Dekaden später, nach dem Tod Katharinas im Jahr 1797, appellierte Seume in Zwei Briefe über die neuesten Veränderungen in Russland seit der Thronbesteigung Pauls des Ersten an die staatspolitische Vernunft:
»Wo die Sklaverei nur an einem einzigen Menschen gesetzlich bleibt, ist der Staat auf einen Widerspruch gebauet, und muss früher oder später sich verbessern, oder zu Grunde gehen.«
Es wurde spät und schlecht gebessert, und der Staat ging zu Grunde. Erst 1861, rund hundert Jahre nach Katharinas Notat, wurde die Leibeigenschaft in Russland abgeschafft. Aber weil die juristische Freistellung auch eine materielle
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