Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
aus der Perspektive der Gedemütigten und zugleich der Niedertracht Entronnenen ansprechen und hinausschreien. Auch bei den Aufklärern ist es nicht einerlei, von wo das Licht fällt: von oben oder von unten, ob ein Hergelaufener wie Seume oder ein Freiherr wie Knigge die Lampe hält – Knigge, der die Lebensumstände des »Landmannes« mit schwungvollem Pathos geschildert und dann sogleich als zänkisch, widerspenstig und unverschämt geschmäht hat. Und wenn er auch einräumt, dass »lange fortgesetzte unedle Behandlung und Vernachlässigung ihrer Bildung daran Schuld« haben, »dass niederträchtige Gesinnungen bei ihnen herrschend werden«, mahnt er dennoch zur Vorsicht. Gibt man den kleinen Finger, verliert man womöglich die ganze Hand – nicht die eigene, sondern diejenige, die für einen die Arbeit macht. Man soll die Bauern in der Bewirtschaftung des Feldes und der Führung des Haushaltes schulen, es ist aber nicht ratsam, ihnen »allerlei Bücher, Geschichten und Fabeln in die Hände zu spielen; sie zu gewöhnen, sich in eine Ideenwelt zu versetzen; ihnen die Augen über ihren armseligen Zustand zu öffnen, den man nun einmal nicht verbessern kann; sie durch zu viel Aufklärung unzufrieden mit ihrer Lage, sie zu Philosophen zu machen, die über ungleiche Austeilung der Glücksgüter deklamieren«. Dies gilt nicht nur für die Leute auf dem Land, sondern für alle, »die bestimmt sind, im niedern Stande zu leben. Trage […] nichts dazu bei, ihre intellektuellen Kräfte zu überspannen und sie mit Kenntnissen zu bereichern, die ihnen ihren Zustand widrig machen und den Geschmack an solchen Arbeiten verbittern, wozu Stand und Bedürfnis sie aufrufen. […] Die beste Aufklärung des Verstandes ist die, welche uns lehrt, mit unsrer Lage zufrieden und in unsern Verhältnissen brauchbar, nützlich und zweckmäßig tätig zu sein.«
Die Leute lehren, mit ihrer Lage zufrieden zu sein! War das nicht bisher die Aufgabe der Religion? Sollte die Aufklärung das Licht, das sie während der Jahrzehnte zuvor in die Kirchen getragen hatte, nun beim Betreten der Ställe löschen? Dann würde sie zurückfallen in die Erziehung zur Demut und sich mit den Klerikern in die Aufgabe teilen, über die Sorgen und Nöte der irdischen Gegenwart hinwegzutrösten mit dem Versprechen einer himmlischen Zukunft. Seume hätte dem nie und nimmer beigestimmt.
»Eine Religion, die des Menschen vorzügliche, fast einzige Hoffnung in ein anderes Leben weist, hat die Präsumtion der Gaunerei in diesem für sich.«
Seumes Antiklerikalismus war stark ausgeprägt. Er hatte in seinem besonderen Einzelfall der Person eines Pfarrers viel zu verdanken, dennoch war ihm der Stand allgemein suspekt, eigentlich verhasst. Denn die Geistlichkeit verdiente ihre Privilegien mit der Rechtfertigung der Privilegien des Adels und missbrauchte dazu ihren Gott:
»Freilich, wenn man den Gekreuzigten nicht an allen Feldwegen zeigte«, heißt es im Spaziergang über Italien, »könnte es doch wohl der Menge einfallen, ihre Urbefugnisse etwas näher zu untersuchen und zu finden, dass keine Konsequenz darin ist, sich durch den Druck des Feudalsystems und durch das Privilegienwesen ohne Aufhören kreuzigen zu lassen.«
Aber im lutherischen Sachsen standen nur noch wenige Kreuze an den Wegrändern. Trotzdem waren den Menschen ihre »Urbefugnisse«, wie Seume die Naturrechte nennt, auch nicht viel deutlicher, weil man anstelle des Kreuzes »den Galgen hingesetzt« hat.
In seine Kritik an der Kirche, ihren Amtsträgern und Dogmen, schließt Seume den Volksglauben ausdrücklich nicht ein. Dazu ist der in die Bildung emigrierte Mann aus dem Volk nicht fähig. In dem Lehrbrief, den er 1792 seinem Zögling Gustav Otto Andreas von Igelström zum Abschied aufgesetzt hat, heißt es:
»Es ist grausam und menschenfeindlich, den wohltätigen Glauben zu stören, auch wenn er Irrtum wäre.«
Noch in Mein Leben betont er, ihm sei
»jeder Volksglaube heilig, der einem ehrlichen Manne Beruhigung gewährt, und sollte er [der Volksglaube] der Philosophie noch so empfindliche Nasenstüber geben. Wer einem leidenden Wanderer seinen alten Mantel nimmt, unter dem Vorwande, er sei übel gemacht und durchlöchert, ist ein Unmensch auf alle Weise.«
Auf die Ideologisierung des Glaubens zur politischen Rechtfertigungslehre durch die Kleriker reagiert Seume mit dessen Psychologisierung. In den Apokryphen heißt es, alle religiösen Vorstellungen seien ein »Anthropomorphismus«:
»Jeder
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