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Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Titel: Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Preisendörfer
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enthalten, so wie diese in der Freiheit und die Freiheit wiederum in allen anderen enthalten ist. Die Unterschiede zwischen den Begriffen, und nicht nur zwischen ihnen, sondern auch zwischen den sozialen Sachverhalten, die man mit ihnen zu begreifen (und zu verändern) suchte, sind für den Anschauungsdenker Seume vernachlässigbar. Wozu ein System analytisch zergliedern, dessen Ungerechtigkeiten empörend direkt zu spüren waren? Was heutige Sozialwissenschaftler als ›Ausdifferenzierung‹ bezeichnen würden, was die (politische) Sphäre der Freiheit und die (soziale) Sphäre der Gerechtigkeit sehr verschieden schwingen und mitunter auch auseinanderschwingen lässt, nahm Seume in seinem Aufbegehren gegen die in den deutschen Ländern sich fortschleppenden Verhältnisse kaum wahr.
An den Nasen herbeigezogen
Wie die Nas’ des Mannes, so auch sein – Privilegium:
»Mich schlägt bei meinem Blicke in die Welt nichts mehr nieder, als dass ich so viel Gesichter sehe, die ihre Ansprüche auf irgendein Privilegium auf die Nase gepflanzt haben.«
Seume hat sich oft, gern und gelegentlich hochnäsig darüber geäußert, dass manche Leute die Nase so hoch tragen. In der auch etwas angeberischen Zeitung für die elegante Welt veröffentlichte er 1803 sogar eine Akroase über die Nase . In diesem »Vortrag« – dies ist in etwa die deutsche Entsprechung zum altgriechischen »Akroasis« – entzieht er sich der Frage, »ob der Charakter die Nase, oder die Nase den Charakter gemacht hat« und verweist auf seine Welterfahrung:
»Sie wissen, dass ich in der Welt gewaltig viel Nasen gesehen habe; und ich habe mir zuweilen in Palermo am Hafen, in Neapel auf dem Toledo, in den Tuilerien, in Halifax, an der Weichsel und in Emden auf der Rathausbrücke eine eigene Beschäftigung daraus gemacht […], mit aller Bescheidenheit die Nasen zu studieren, ohne die meinige zu naseweis zu weit hervor zu strecken.«
Der Würzburger Literatur-Zeitung hat die pseudophysiognomische Plauderei besonders gefallen: Seume spiele »gewissermaßen Lavaters Rolle, nur mit mehr Originalität, möchte man sagen, und mit mehr Einheit des Taktes, indem er an den Menschengesichtern nur die Nase, den Leuchtturm derselben, mutwillig [zu] beaugen scheint, dass man fast in Versuchung kömmt, sich ein Futteral zu schaffen, jedoch ohne dem Schäker böse zu werden, dessen Griffe nach der Nase doch noch human sind, und dessen vorwitzige Physiognomie eine gefällige Beimischung von Gutmütigkeit hat.«
Johann Kaspar Lavaters Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe war von 1775 bis 1778 erschienen. Sie glaubte in Wort und Kupferstich zeigen zu können, dass sich der Charakter eines Menschen in seinem Gesicht auspräge – oder darin einfleische. Goethe und Herder, beide in jenen Jahren noch sturmgeschüttelt und zum Genialen drängend, hatten sich begeistert an Lavaters Projekt beteiligt. Doch wurde die Physiognomik samt Lavater aus einem Gegenstand der Bewunderung rasch zu einem Anlass des Spotts. Schon 1778, als Lavaters letzter Band erschien, veralberte Georg Christoph Lichtenberg in der Streitschrift Über Physiognomik wider die Physiognomen das Seelendeuten aus dem Leib heraus. Kein Wunder, wird mancher gehöhnt haben, hat der Lichtenberg nicht einen Buckel?
Seume machte sich halb einen Spaß, halb einen Sport daraus, Privilegienträger an den Nasen zu ziehen, denn ihre Privilegien sind gewissermaßen an den Haaren herbeigezogen und weder durch persönlichen Charakter noch durch soziale Leistung gerechtfertigt. Doch blieben Seume auch die nicht privilegierten Nasen interessant, wie er während seiner letzten Lebensphase in den Apokryphen schrieb:
»Vor mehreren Jahren habe ich eine Diatribe über die Nase geschrieben, und es ist noch jetzt eine meiner gewöhnlichen unwillkürlichen Beschäftigungen, die Nasen zu belugen und zu ordnen. Den Familienstoff [heute würde man sagen: ›die Gene‹] abgerechnet, bin ich immer noch der Meinung, dass jeder Mensch so ziemlich seine Nase selbst macht. […] Ich klassifiziere dann mit vieler Gewissheit [Gewissenhaftigkeit] alle meine Nasen. Da ist die stolze Nase, die ärgerliche Nase, die eingebildete Nase, die vornehme Nase, die impertinente Nase, die tyrannische Nase, die listige Nase, die sklavische Nase, die dumme Nase, die bigotte Nase, die fromme Nase und viele andere Nasen. […] Vor andern zeichnen sich noch aus die vorwitzige und die geile Nase. Unschuldige Nasen oder

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