Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
über die Zensurverschärfung nach Katharinas Tod:
»Es wird konfisziert und verbrannt, was man konfiszieren und verbrennen kann: unstreitig weit mehr, als der Wille des Monarchen und des Ministeriums ist.«
An anderer Stelle schiebt er in alter Fürstenspiegelmanier das, was ein systemisches Versagen des Autokratismus ist, dem persönlichen Interesse der Höflinge zu:
»Man tut meistens den Fürsten unrecht, wenn man sie beschuldigt, dass sie nicht Wahrheit hören wollen; sie wird ihnen nur selten gesagt. Und geschieht es einmal, so geschieht es nicht mit Ernst und Nachdruck der Würde, sondern sie wird ihnen vorgepoltert. Die Höflinge sind gewöhnlich die goldenen Schmeißfliegen der Gesellschaft, die ihren Glanz aus Unrat ziehen.«
Das ist eine Kammerherrenperspektive, nicht die des Rebellen, als der Seume sich gerne gab – und der er mitunter auch war, nur eben nicht in republikanischen Angelegenheiten. Der Kammerherr von Friedrich II., Heinrich von Lehndorff, tröstete sich über enttäuschende Erlebnisse im Dienst mit ähnlichen Überlegungen hinweg: »Man muss vernünftig sein und nicht zu viel von einem König verlangen. Wie soll er alles, was sich in seinem Reich zuträgt, wissen? Es ist demnach immer der Fehler derer, die ihm berichten, wenn seine Entscheidungen nicht der vollkommensten Billigkeit entsprechen.« Die hohen Herren können nichts dafür, was die unteren Chargen in ihrem Namen anrichten.
»Es würde bei Hofe und im Lande alles gut sein«, schreibt Seume, »wenn der Weg zum Regenten nicht – durch die Tasche des Kammerlakaien ginge.«
Diese Immunisierung der obersten Macht gegen Kritik hat eine lange und furchtbare Tradition. Parolen wie diese kursieren seit jeher im Volk: ›Der Zar ist weit‹, ›Wenn das der Führer wüsste‹, ›Der Chef kann sich nicht um alles kümmern‹. Eben weil der Chef sich nicht um alles kümmern kann, muss seine Macht beschnitten, sein Wille gehemmt, sein Einfluss begrenzt werden. Die Teilung der Macht ist demokratischer Selbstzweck, nicht bloß ein Mittel zur Überwindung von Missständen. Dieser Gedanke war Seume fremd – und wo er ihm doch nahekam, hielt er ihn für weltfremd.
Gleichwohl war Seume kein Fürstenknecht. Dafür bekam er zu selten Gelegenheit, an höchster Stelle zu dienen. Er hält dafür, dass man die Fürsten erst post mortem lobt, historisch also, nicht persönlich. »Lob in dem Leben ähnelt der Schmeichelei«, wie er 1807 nach dem Tod der Herzogin Anna Amalia von Weimar geschrieben hat, von der er zu Lebzeiten einige Male huldvoll empfangen worden war.
Verdammte Privilegien
»Die Fürstenknechte peitschen blutig
Und zogen kühn und drückten mutig,
Bis zu dem tiefsten Unsinn dumm;
Und sammeln sich noch jetzt in Heeren,
Das Mark des Landes zu verzehren:
Das ist das Privilegium.«
In diesem Gedicht aus den Apokryphen verhöhnt Seume die aristokratische Kultur der durch keine Leistung gerechtfertigten Bevorzugung, die Besserstellung durch das pseudonatürliche Vorrecht höherer Geburt. Der Mann, der es durch eigenes Talent, eigenen Fleiß und mit der Hilfe vieler Väter vom Bauernbub, geboren in Poserna, zum Schriftsteller in Leipzig gebracht hat, mochte nicht einsehen, warum die soziale Stellung vom leiblichen Vater abhängen und das ganze Leben von der Geburt bestimmt sein sollte:
»Was ist der Mann? fragen andere. Wer ist sein Herr Vater? fragt der Deutsche.«
Die anderen, das sind beispielsweise die Franzosen, denen die Revolution trotz aller Greuel die Fesseln der Herkunft abgenommen und Männern aus dem Volk, Frauen schon weniger, bis dahin nicht vorstellbare Karrieren ermöglicht hat. Nicht zufällig wird in einer der Pariser Passagen des Spaziergangs das Prinzip Aufstieg formuliert:
»Wo nicht der Knabe, der diesen Abend in der letzten Strohhütte geboren wurde, einst rechtlich die erste Magistratur seines Vaterlandes verwalten kann, ist es Unsinn von einer vernünftigen Republik zu sprechen. Privilegien aller Art sind das Grab der Freiheit und Gerechtigkeit.«
An einer anderen Stelle, die vom Parisaufenthalt erzählt, heißt es weniger kitschig, aber umso apodiktischer:
»Wo keine Gerechtigkeit ist, ist keine Freiheit; und wo keine Freiheit ist, ist keine Gerechtigkeit: der Begriff ist eins; nur in der Anwendung verirrt man sich, oder vielmehr man sucht andere zu verwirren.«
Hat Seume in der Stadt der Revolution die Gleichheit vergessen? Aber für ihn ist die Gleichheit wie die Brüderlichkeit in der Gerechtigkeit
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