Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
vielmehr Näschen findet man auch, aber ich erinnere mich nie, eine vernünftige Nase gesehen zu haben.«
So gehört seine Kritik selbst eher der alten Zeit der deutschen Aufklärung an als der neuen nach der Revolution in Frankreich. Das zeigen etwa seine rhetorischen Sturmläufe gegen Gnade, diesem die Gleichheit verunreinigenden Erweis von oben herab. In den Apokryphen notiert er:
»So lange dieser Begriff im öffentlichen Recht waltet, ist weder an Vernunft noch Freiheit noch Gerechtigkeit zu denken.«
Und anschaulicher in der Rezension von Merkels Buch über die Letten:
Es »ist keine größere Herabwürdigung der Menschennatur, als wenn der Mensch mit seiner Existenz und Subsistenz, die er rechtlich fordern kann und soll, von der ungewissen Herzensgüte und Gnade anderer abzuhängen gezwungen wird«.
Die Gnade wurde von den aufgeklärten Fürsten und von den Rechtsreformern seit Jahrzehnten bekämpft. Die Suppliken, diese alle mittleren Instanzen überspringenden Eingaben beim Landesherrn, sollten eingedämmt und der Rechtsgang zur Norm werden. Allerdings nicht ohne Ausnahme, denn ganz mochten sich die absoluten Fürsten die Macht, Ausnahmen zu machen und Gnaden zu erweisen, doch nicht nehmen lassen. Das Gesetz sollte gelten, aber nicht gegen den Willen des Königs. Alles andere hätte den Monarchen faktisch zu einem konstitutionellen gemacht. Seumes Gegner war aber nicht die Monarchie, sondern der Adel, der sich in seiner Wahrnehmung zwischen das Volk und den König schob. In der Plutarch-Vorrede wiederum richtet er seine Kritik der Privilegien gegen alle Besitzenden.
»Je mehr Vermögen jemand besitzt, um so mehr strebt er nach Privilegien, damit er die übrigen quälen, unterdrücken, wie Klötze und Dummköpfe behandeln kann.«
Diese Ausdehnung der Privilegienkritik ist eine Überdehnung. Wieder steht bei Seume der allgemeine Protest einer konkreten Analyse im Weg. Die politische Kritik am Adelsprivileg verschwimmt zur Beschwerde über Vorteilsnahmen aller Art. So gerät aus dem Blick, dass die Vorteile, die jemand durch sein Vermögen hat, sozial und rechtlich etwas völlig anderes sind als die Privilegien der Geburt. Ein Teil des Adels war ja gerade deshalb auf Privilegien angewiesen, etwa bei der Besetzung von Offiziersstellen, weil der Besitz nicht genügte, um der ganzen Familie ein standesgemäßes, also von bürgerlicher Arbeit freies Leben zu finanzieren. Die vermögenden Schichten des Bürgertums wiederum verteidigten die Privilegien nicht, sondern bekämpften sie, weil sie der Mehrung des Reichtums entgegenstanden, etwa wenn es darum ging, verarmten Adeligen die Rittergüter zu Markt- statt zu Ehrenpreisen abzukaufen. Weil Seume Ungerechtigkeit moralisch angreift, statt sie sozial zu analysieren, dringt seine Kritik nicht vor zu den epochalen Unterschieden zwischen den Besitz-, Herrschafts- und Ausbeutungsformen der feudalen und jenen der bürgerlichen Gesellschaft. Sie ist sympathisch in ihrem Impuls, aber indifferent in der Sache:
»Der erste Fußbreit Landes, der nicht gleich verhältnismäßig mit den übrigen zu den öffentlichen Lasten beiträgt, ist der erste Schritt zum Privilegium, zur Pleonexie, zur Habsucht, zur Ungleichheit, zur Willkür, zur Unterdrückung, zur Despotie, zur Tyrannei, zur Anarchie, zur Sklaverei.«
Ein schwungvoller Rundumschlag, der alle Übel unter ein Fußbreit Land bringt – und doch nur ein spätes Echo dessen, was Rousseau in seiner Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit ein halbes Jahrhundert zuvor geschrieben hatte: »Der erste, welcher ein Stück Landes umzäunte, sich in den Sinn kommen ließ zu sagen: dieses ist mein, und einfältige Leute antraf, die es ihm glaubten, der war der wahre Stifter der bürgerlichen Gesellschaft. Wieviel Laster, wieviel Krieg, wieviel Mord, Elend und Greuel hätte einer nicht verhüten können, der die Pfähle ausgerissen, den Graben verschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ›Glaubt diesem Betrüger nicht; ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass die Früchte euch allen, der Boden aber niemandem gehört.‹«
Leibeigene und Sklaven
»In den mehrsten Provinzen von Deutschland lebt der Bauer in einer Art von Druck und Sklaverei, die wahrscheinlich oft härter ist als die Leibeigenschaft desselben in andern Ländern. Mit Abgaben überhäuft, zu schweren Diensten verurteilt, unter dem Joche grausamer, rauhherziger Beamter seufzend, werden sie des Lebens nie froh, haben keinen
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