Der wahre Hannibal Lecter
Grauens«, wie manche Gefangenen die Anstalt in Wakefield nennen.
Die Leitung beobachtet ihn sehr aufmerksam, diesen Robert Maudsley, der seine Strafe schon fast abgesessen hatte, bevor er wieder tötete.
Verständnislos schüttelt der Leiter der Strafanstalt den Kopf, als er sich die Akte Maudsley wieder und wieder zu Gemüte führt. Doch das Wachpersonal bescheinigt dem berüchtigten Gefangenen monatelang eine gute Führung, und so beschließt man, Maudsley erneut eine Chance zu geben. Nach langer Einzelhaft verlegt man ihn in eine Gemeinschaftszelle und hofft darauf, dass sich ein Vorfall wie der in Broadmoor nicht wiederholt.
Wochenlang verhält Maudsley sich unauffällig und ruhig. Er ist freundlich gegenüber den Mitgefangenen und vor allem gegenüber den Wärtern. Er liest viel, vor allem in der Bibel.
Seine Zellengenossen verspotten ihn deshalb sogar bereits.
Doch Robert stört das nicht.
Oft schlägt er mit seiner abgewetzten Bibel auf den Tisch und schreit seine Zellengenossen an: »Lasst mich in Ruhe mit eurem blöden Kartenspiel. Ich will lesen, sonst nichts.«
Robert Maudsley war nie ein Spieler. Er beherrscht die Spiele nicht einmal, mit denen sich seine Mithäftlinge die Zeit vertreiben, bis das Licht abgeschaltet wird.
Selbst die Wärter machen sich lustig über seinen religiösen Eifer. »Willst wohl noch Gefängnispfarrer werden?«, fragen sie ihn dann.
»Ich glaube, der legt die Bibel nur vor sich hin. In Wirklichkeit liest er gar nicht, sondern denkt nur nach«, glaubt dagegen einer der Zellengenossen, traut sich dies aber nur hinter Roberts Rücken zu sagen.
»Oder will er Ministrant beim Anstaltsgeistlichen werden?«, mutmaßt ein anderer. »Da hat er das feinste Leben.
Ministranten haben die besten Bedingungen hier. Sind ständig mit dem Pfarrer zusammen, von dem es meist Tabak und andere Vorteile zu erwarten gibt. Die Pfarrer sind nicht wie die Wärter. Sie suchen noch nach dem Guten im Menschen und sehen nicht nur den Verbrecher. Auch Kontakte zu Verwandten draußen werden durch den Pfarrer sehr viel leichter.«
Deshalb werden diese Gefangenen von den Mithäftlingen beneidet. Sie müssen nicht arbeiten. Ihre einzige Aufgabe besteht darin, die Kirche sauber zu halten und bei den sonntäglichen Messen dem Pfarrer als Ministrant zur Seite zu stehen.
Ebenso verhält es sich mit den anderen begehrten Arbeiten im Knast. Die Arbeit in der Bücherei. Ein ruhiger Job. Einmal die Woche Bücher verteilen, ansonsten Sortieren des Materials.
Den ganzen Tag ist die Zellentür geöffnet, erst abends beim allgemeinen Einschluss wird auch sie abgesperrt. Das ist ein Privileg, das mit nichts zu vergleichen ist. Man kann erahnen, wie es sich anfühlt, frei zu sein. Nicht eingeschlossen zu sein in einem Raum, dessen Tür stets verriegelt ist. Es ist nämlich gar nicht die Enge der Zelle, die das Leben für die Gefangenen so dermaßen unerträglich macht.
Sehr beliebt ist auch der Arbeitsplatz des »Hausels« in der Kleiderkammer und in der Wäscheausgabe. Von Zeit zu Zeit schafft die Anstalt neue Bekleidung für die Gefangenen an. Die wird natürlich zuerst von diesen Männern selbst getragen. Die besten Geschäfte werden mit neuer Bekleidung gemacht. Denn auch Gefangene wollen sich annehmbar anziehen können.
Unbedingt erwähnenswert ist auch der Job eines »Hausels«
in der Krankenabteilung. Das ist ein Vertrauensposten, der sich besonderer Beliebtheit erfreut. Hier kommt man an Spritzen und Nadeln. Für jeden Rauschgiftsüchtigen im Knast ist es ein unbedingtes Muss, sich mit diesem Mann gut zu stellen.
Genauso wenig zu verachten ist die Arbeit des
»Flurhausels«. Er ist tagsüber auf »seinem« Flur – meist zählen dazu rund 50 Zellen – der alleinige Herrscher. Er hat Zugang zu jeder Zelle. Auch wenn er sie nicht öffnen kann, so hat er doch die Möglichkeit, mit den Gefangenen zu reden. Er ist der Makler der Abteilung, derjenige, der Geschäfte vermittelt Verbindungen herstellt. Die Provisionen sind gut. Sein Honorar ist im Voraus fällig. Nicht so angenehm ist das Putzen der Gänge, eine seiner Hauptaufgaben.
Doch alles wird gerne in Kauf genommen für eine Zellentür, die den ganzen Tag geöffnet ist.
Es ist diese verdammte Zellentür. Sie öffnet sich wie bei einem Tier, das zur Tränke geführt wird. Das gefüttert wird, um überleben zu können. Das man lediglich einmal am Tage Gassi führt. Robert John Maudsley hat sich an dieses Leben gewöhnt. Er hat sich den härtesten
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