Der wahre Hannibal Lecter
Mutter zu erkennen. Er sieht sie lachen, obwohl sie selten einen Grund dazu hatte. Erinnerungen werden in ihm wach, an die wenigen glücklichen Momente seiner Kindheit.
Ein sanftes Streicheln seiner Mutter, eine Umarmung – Robert sieht, wie seine Mutter ihn anlächelt, ihn in die Arme nehmen will. Sie ist zum Greifen nahe, er möchte ihr Gesicht berühren.
Mit einem Mal lässt ihn die Kälte des Glases zurückschrecken.
Robert John Maudsley weint! Endlose Tränen benetzen den Boden der grauen Zelle. Rückhaltlos gibt er sich seinen Gefühlen hin. Er spürt, dass seine Lage aussichtslos ist. Doch die verschwommenen Bilder der Vergangenheit bringen auch das Gesicht seines Vaters zurück. Er will es verdrängen, wegwischen wie ekligen Schmutz, doch es gelingt ihm nicht.
Er wird die Gedanken an seinen Vater nicht mehr los. Das bringt Robert endgültig zurück in die Wirklichkeit. Er steigt von seinem Stuhl und stellt ihn vor den Tisch. Unruhe kommt in ihm auf. Seine Hände auf dem Rücken gekreuzt, geht er die wenigen Meter in der Zelle auf und ab. Er betrachtet den Spion an der Zellentür, prüft ob man ihn beobachtet Er blickt zum Fenster und stellt sich vor, dass die Gitterstäbe schmelzen.
Die Weichen sind gestellt. Die Verlegung des unliebsamen Häftlings ist durch die Strafvollzugsbehörde längst organisiert.
Die Vorbereitungen für dessen Überstellung sind abgeschlossen. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis Maudsley eine neue Umgebung erhält.
Auf dem Kalender im Chefbüro ist noch das Bild des Monats Mai 1977 zu sehen, als den Gefängnisdirektor neue Hiobsbotschaften erreichen.
»Maudsley ist total verändert«, wird ihm gemeldet »Er scheint etwas zu planen, und sicher nichts Gutes.«
Doch der Anstaltsleiter lässt sich davon nicht irritieren. »Das Thema Maudsley ist bald ausgestanden. Die paar Tage werden wir auch noch überleben, oder nicht?«, entgegnet er.
»Ach so, er wird verlegt. Das wusste ich ja nicht. Ich wollte Ihnen nur von seiner Veränderung berichten, so wie Sie es angeordnet haben«, schließt der Beamte seine Meldung ab und verlässt erleichtert das Büro. Er hat Robert stets misstraut. Er war immer der Meinung, dass dieser Mann ihm noch große Schwierigkeiten bereiten würde. Allein die Art Roberts verabscheute er, und er ließ ihn dies auch bei jeder Gelegenheit deutlich spüren.
»Endlich habe ich mit diesem Kerl nichts mehr zu tun«, freut er sich und geht wie jeden Tag zur Poststelle. Er holt die Briefe für die Gefangenen ab und begibt sich dann auf den Weg zu seinem Zellengang. »Sortiere sie mal nach den einzelnen Zellen«, befiehlt er seinem »Hausel«.
Er hat es eilig, denn er will noch mit dem Beamten von der Zentrale ein kleines Schwätzchen halten.
»Hast du gewusst dass Maudsley verlegt wird?«, fragt er seinen Kollegen.
»Wer wird verlegt?«, fragt der verblüfft nach und weiß doch schon die Antwort.
»Der Robert Maudsley, du kennst ihn doch, der Schrecken meiner Abteilung.«
»Na, dem wird keiner eine Träne nachweinen«, meint der Beamte und kümmert sich wieder um seine Bildschirme mit den Übertragungen von den einzelnen Zellengängen. Robert Maudsley denkt währenddessen immer noch an seinen Vater.
Er hat das Gefühl, eine Schlange mit vielen Köpfen zu sein. Er will nach allen Seiten gleichzeitig zuschlagen. Schwelgerisch vergegenwärtigt er sich alle Details seines Mordes in London.
Er spürt, wie in ihm wieder die Lust auf warmes Blut aufsteigt.
Er will sein Opfer winseln hören, es unterwürfig auf allen Vieren vor sich her kriechen sehen. Er wirkt gefasst. Sein Entschluss ist gefallen: Er wird wieder töten.
Wenige Tage später. Scheinbar gelangweilt kauert Maudsley nach dem Hofgang an der Mauer vor seiner Zelle. Er beobachtet die anderen Häftlinge, die eine Freistunde auf dem Gang genießen. Die einen machen Geschäfte, die anderen spielen Karten. Kein Gefangener sucht seine Nähe, seine Unterhaltung. Robert geht in seine Zelle und wartet. Wartet auf eine Abwechslung im tristen Dasein, egal welcher Art. Er will nur eine kleine Veränderung erleben, eine Unterbrechung des eintönigen Gefangenenalltags.
Wieder und wieder geht er zu seiner Zellentür und beobachtet das rege Treiben der Häftlinge auf dem Gang. Er spürt förmlich, wie sehr seine Mithäftlinge ihn verachten.
Maudsley fühlt sich ausgegrenzt, genau wie damals in seiner Jugend. Noch immer will er nicht glauben, dass sein einstiger Ruhm in Scherben zerbrochen ist und am Boden
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