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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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er.
    «Haben Sie diesen Mann mit eigenen Augen gesehen?»
    «Ja, sicher. Ich wollte ihn zur Ordnung rufen. Er hat die ganze Station in Angst und Schrecken versetzt.»
    «Hatte er eine Waffe?»
    «Weiß ich nicht. Gesehen hab ich keine. Als er ein paar Tage später wiederkam, war er viel ruhiger und saß lange am Bett von Solowjow.»
    «Wie oft ist er denn noch hier gewesen?»
    «Ich selbst habe ihn vier- oder fünfmal gesehen.»
    «Ist er der Ehefrau nie zufällig über den Weg gelaufen?»
    «War das nicht seine Mutter? Nicht dass ich wüsste.»
    «Und Sie sind sicher, dass er Solowjow nicht erschossen hat? Oder sonst wie umgebracht?»
    «Hören Sie. Ich war Militärarzt in Afghanistan. Ich werde noch eine Schusswunde erkennen. An dem Tag, als Solowjow starb, hatte ich Dienst. Er hat Morphine bekommen, gegen die Schmerzen. Erschossen wurde er nicht.»
    «Ich danke Ihnen für die Auskunft, Herr Doktor. Diese Information ist für unsere Gesellschaft sehr wichtig. Noch etwas.»
    «Ja?»
    «Hat Solowjow irgendwas gesagt, was dieser Sohn von ihm wollte?»
    «Kein Wort. Er hat sowieso nur mit großer Mühe gesprochen, mit den Schläuchen. Eher geröchelt. Aber der Sohn hat etwas gesagt, er hat gerufen: Ich bin dein wahrer Sohn. Mehrmals. Immer wieder diesen Satz.»
    Konrad zog das Foto von Holota aus der Tasche.
    «War es dieser Mann?»
    «Genau der», sagte Kowalenko und tippte mit dem Zeigefinger darauf.
     
    Konrad verließ die Klinik mit einem Gefühl tiefer Befriedigung. Olhas Sohn hieß Wasyl Holota. Die Indizien waren eindeutig. Er fühlte sich, als hätte er mit der neuen Erkenntnis seine Aufgabe vollends gelöst. Als ihm das Auto wieder einfiel, wurde ihm klar, dass der Mercedes kein beliebiges gestohlenes Fahrzeug mehr war, sondern ein Geschenk. Vom Vater an den Sohn. Auch wenn der Vater nur als Halter fungierte und der Sohn es bezahlt hatte, war es eine symbolische Geste, die eine Verbindung zwischen ihnen herstellte. Eine enge Verbindung, die ihm schon auf einer seiner ersten Zeichnungen aufgefallen war. Es hatte damals nur mit dem falschen Sohn gerechnet. Für das Kräfteverhältnis in der Konstellation spielte das keine Rolle: Wenn man diesem Sohn das Auto entreißen wollte, war das so, als wollte man ihm den Vater ein zweites Mal wegnehmen. Es wäre nur mit Gewalt möglich.
     
    Von seinem Besuch in der Krebsklinik wusste Svetlana nichts. Auch von seinen Gesprächen mit Professor Guzman konnte sie eigentlich nicht erfahren haben. Aber Frauen besitzen ein Gespür.
    «Sie sind so unruhig in letzter Zeit», sagte sie am Abendbrottisch.
    «Ja, vielleicht, weil meine Zeit hier zu Ende geht», meinte Konrad unüberlegt. «Ich werde bald fahren müssen. Ich glaube nicht mehr, dass ich den Wagen noch finde. Und ewig kann ich nicht hierbleiben.»
    «Ja, fahren Sie ruhig. Sie haben es ja schon mehrmals angekündigt. Ich werde Sie nicht daran hindern. Arkadij ist viel wichtiger für Sie als ich, das ist mir schon klar.»
    «Das habe ich nicht behauptet.»
    «Doch, es geht aus Ihren Worten hervor, vielleicht sollten Sie mehr darauf achten, was Sie sagen. Schade, dass Sie so auf Arkadij fixiert sind. Ich dachte immer, ein Privatdetektiv müsste alle möglichen Spuren verfolgen, statt sich auf eine einzige zu konzentrieren. Ich erwarte ja gar nicht, dass Sie mich mögen. Aber ich dachte, zwischen uns hat sich so eine Art Freundschaft entwickelt … etwas wie Seelenverwandtschaft.»
    Sie benutzte das deutsche Wort, mit ihrem starken russischen Akzent.
    «Das ist Goethe, nicht wahr?»
    «Ja, ich habe ihn gelesen, als ich jung war. Ich dachte, uns verbindet etwas Tieferes. Wir haben uns gerade deshalb Hals über Kopf verstanden, weil unsere Herzen wie offene Bücher waren.»
    Es waren seltsam verrenkte, altmodische Wendungen, denen man die Herkunft aus der Romantik anmerkte.
    «Aber ich schätze Sie doch», sagte er ungeschickt.
    «Darauf pfeif ich.»
    «Schade. Ich mag Sie wirklich …»
    «Aber? Irgendetwas haben Sie doch?»
    «Nein. Nur Olha. Sie hatte ein Kind.»
    Ihre Reaktion war verblüffend. Mit der linken Hand griff sie nach der Gabel, mit der rechten nach dem Messer. Beide senkrecht haltend, die Fäuste auf dem Tisch, saß sie regungslos da. Wie die Karikatur eines Kindes, das aufs Essen wartet. Als hielte sie sich an ihrem eigenen Besteck fest, als könne dies ihre Fassung wahren. Es half nur kurz, und die Tränen traten ihr aus den Augen. Kein großer Ausbruch, nur stumme Tränen. Sie blieb einen Moment trotzig

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