Der wahre Sohn
sagte sie ruhig zu Konrad:
«Sie werden nicht mehr zu Arkadij gehen.»
«Was?»
«Ich sage Dr. Prokoptschuk Bescheid. Sie sind selbst schon zu verwirrt. Wie kommen Sie denn dazu, Arkadij mehr Glauben zu schenken als mir? Sie benutzen meine Wohnung wie eine Absteige, treiben sich tagsüber herum, ich habe keine Ahnung, wo, und kommen zum Übernachten hierher. Abgesehen davon, dass Sie Ihre Gesundheit aufs Spiel setzen: Sehen Sie denn nicht, wie sehr Sie mich damit verletzen? Wie sehr Sie mir Unrecht tun? Sie glauben diesem Wahnsinnigen mehr als mir. Dabei war ich immer aufrichtig zu Ihnen.»
«Abgesehen von den paar Dingen, bei denen Sie es für notwendig hielten, sie mir zu verheimlichen.»
«Unsinn, Kleinigkeiten. Sie sind wohl nicht mehr ganz richtig im Kopf. Lassen sich Sachen einreden, die gar nicht stimmen können, und erschrecken mich dann mit wirren Fragen.»
«Nein, ich will Ihnen ja glauben. Aber ich möchte auch verstehen, was er meint. Was finden Sie an dieser harmlosen Frage denn so furchtbar?»
«Was er meint, was er meint! Was kann er schon meinen? Vielleicht hatte er als Säugling wirklich einen Bruder, als seine Mutter starb. Wir wissen das doch nicht.»
«Also, Sie wissen nichts von einem Bruder.»
«Nein. Nein. Nein. Ich nehme jetzt erst mal einen Wodka. Sie auch?»
«Nein danke. In letzter Zeit trinken Sie ein bisschen zu viel, für meine Begriffe.»
Svetlana schenkte sich ein Glas ein und kippte es hinunter. Das war der Beweis: Es musste einen Bruder gegeben haben, nur so war ihre hysterische Reaktion zu erklären. Andernfalls hätte sie das einfach ruhig bestritten. Eine weitere unbekannte Person, deren Existenz sehr wahrscheinlich war, betrat die Konstellation. Vielleicht meinte sie Olhas Kind? Also ein Sohn. Nur das Alter stimmte nicht überein.
Er lag im Halbschlaf, es war schon hell, als er Svetlanas Stimme im Flur hörte und davon ganz erwachte. Er blieb liegen und bemühte sich, etwas zu verstehen. Umsonst. Er stand auf, schlurfte an der Küche vorbei, in der sie das Frühstück vorbereitete, und fragte, als er aus dem Bad zurückkam:
«Habe ich Sie gestern richtig verstanden?»
«Womit?»
«Sie wollen nicht mehr, dass ich Arkadij besuche?»
«Ja, natürlich. Ich habe eben mit Dr. Prokoptschuk telefoniert. Sie beide brauchen jetzt eine Pause, Arkadij und Sie.»
Ihr fürsorglicher, sanfter Ton machte Konrad hilflos und wütend. Ohne Erwiderung ging er in sein Zimmer. Er setzte sich an den Schreibtisch und griff nach dem Pantographen. Weil er nicht einfach nur dasitzen konnte, nahm er sich seine Konstellation vor und breitete ein weißes Blatt vor sich aus.
Als Erstes setzte er das Paar Arkadij – Olha in die Mitte. Links daneben trug er Arkadijs Bruder ein, gleich, um ihn nicht wieder zu vergessen. Olhas Kind eine Stufe unter ihr, rechts. Ob es je zur Welt gekommen war, ob es noch lebte, war unbekannt. Noch weiter rechts, ganz am Rand, stand dieser Wasyl Holota. Er wusste von ihm nur das, was Mazepa erzählt hatte. Arkadijs großer Bruder konnte er nicht sein, denn er war kurz nach dem Krieg geboren. Vom Bruder und von Olhas Kind wusste er so gut wie nichts, das Kind und Holota dagegen hatten eines gemeinsam: Beide waren kurz nach dem Krieg geboren.
Konrad widerstrebte es zunächst, zwei Personen in Deckung zu bringen, die verschiedenen Bezeichnungen trugen – Wasyl Holota und Olhas Kind. Als könnte die kleine Welt, die auf dieser Zeichnung ihren abstrakten Ausdruck fand, dadurch vorzeitig verarmen. Jetzt wurde ihm bewusst, dass in den Akten nie Olhas Nachname erwähnt worden war, und er war auch nicht auf die Idee gekommen, Svetlana danach zu fragen. Ein Kindermädchen braucht nur einen Vornamen, am besten abgekürzt, einen Kosenamen. Olha Holota? Dieser Nachname schien den Riesenkreis um sie, der nur aus praktischen Gründen auf dem Blatt zusammenschrumpfen musste, unzulässig zu verkleinern. Dennoch zeichnete er die Konstellation noch einmal und trug die beiden versuchsweise so ein, dass ihre Kreise sich deckten. Man konnte sie ja einmal übereinanderlegen, ohne dass sie gleich verschmelzen mussten. Damit war der Hauptverdächtige in die Familie integriert, im weiteren Sinne. Die Großfamilie. Familie plus Kindermädchen. Und diese doppelte Person entwickelte eine ungeheure Hitze.
Svetlana klopfte an der Tür. Er verstand langsam, was Arkadij an diesem Verhalten immer zur Weißglut gebracht hatte; sie drückte die Klinke, ohne die Antwort abzuwarten.
«Hier,
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