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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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zurückführen, auch wenn er sich ein paarmal sträubte und Konrad geduldig einfach ruhig stehen bleiben musste, bis er wieder weiterging. Endlich in der schmalen Box, merkte er, dass er an der Rückwand stand und das Pferd vor ihm. Er kam nicht mehr raus. Er hatte das riesige, glänzend-glatte Rund des gestriegelten Pferdehinterns vor sich, roch den Pferdeschweiß und hatte Angst, das Tier könnte nach ihm treten. Schieben kann man ein Pferd nicht. Er war stolz darauf, sich dann irgendwie vorbeigedrückt zu haben und noch herausgekommen zu sein. So ein Kunststück musste ihm auch jetzt gelingen.
    Svetlana mochte noch so sanft und fürsorglich sein, die Wahrheit konnte sie ihm nicht verbieten. Als er das verstanden hatte, durchströmte ihn stille Empörung, eine Art Vorlust auf das, was jetzt noch zu tun blieb.
     
    Die Wirklichkeit antwortet uns in der Weise, wie wir ihr begegnen. Mit einem Mal fiel ihm alles, was er früher an der Ermittlungsarbeit so langweilig gefunden hatte, leichter. Irinas Ratschlag war so schlicht wie gut: Für die Adresse des Militärischen Hauptkrankenhauses, in der Jurij Solowjow seine letzten Monate verbracht hatte, genügte ein Blick ins Telefonbuch. Zum Postamt konnte er sogar zu Fuß gehen. Als er dort fündig geworden war, nahm er den Bus in die Lesja-Ukrainka-Straße.
    Vor dem Haupteingang kaufte er einer alten Frau einen Blumenstrauß ab und betrat das Gebäude. Mit der besorgten Miene des Angehörigen fragte er bei der Pförtnerin nach der Krebsstation, sie erklärte ihm den Weg. Auf der Station erkundigte er sich nach dem leitenden Arzt und wurde zu Dr. Kowalenko geführt.
    «Haben Sie ein paar Minuten Zeit für mich?», fragte Konrad.
    Der Arzt bat ihn in sein Zimmer.
    «Ich will ganz offen sein», sagte Konrad. «Ich untersuche im Auftrag einer Versicherungsgesellschaft einen Todesfall, der sich hier vor ungefähr drei Monaten ereignet hat. Sagt Ihnen der Name Jurij Solowjow etwas?»
    «Ja, ich erinnere mich», sagte Dr. Kowalenko. «Darf ich mal Ihren Ausweis sehen?»
    «Ich würde Ihnen fürs Erste lieber diese Art Ausweis geben.»
    Konrad zog einen Hundert-Dollar-Schein aus seiner Brieftasche und legte ihn auf den Tisch. Dr. Kowalenko ließ ihn liegen.
    «Was möchten Sie wissen?»
    «Die offizielle Diagnose ist uns bekannt. Demnach ist Herr Solowjow an Lungenkrebs gestorben. Wir haben allerdings Anlass zu dem Verdacht, er könnte am Ende doch gewaltsam ums Leben gebracht worden sein.»
    Dr. Kowalenko holte Luft. «Die Frage lässt sich relativ leicht beantworten. Herr Solowjow litt an einem kleinzelligen Bronchialkarzinom. Er war starker Raucher, bis zuletzt. Ließ sich das nicht verbieten. Ist allerdings immer brav auf den Balkon hinausgegangen, solange er noch gehen konnte. Bei seiner Einlieferung befand die Krankheit sich bereits im ersten Stadium der Ausdehnung. Das Karzinom hatte gestreut, die Lymphknoten waren massiv befallen. Operativ ließ sich da nichts mehr machen. Es kam schon bald zu einer Thoraxwandinfiltration. Chemotherapie bei einem Mann dieses Alters ist ganz kritisch, Bestrahlung hilft auch nicht mehr viel. Eine Heilung in diesem Stadium ist mir noch nicht vorgekommen. Kurz gesagt: Man konnte sich die Mühe sparen, ihn noch umzubringen.»
    «Hat er viel Besuch bekommen?»
    «Nein. Seine Frau kam etwa zweimal die Woche.»
    «Und sein Sohn?»
    «Welcher?»
    «Er hatte nur einen.»
    «Nein. Er hatte zwei Söhne. Der eine, der ältere, war nur ein einziges Mal hier, in Begleitung der Mutter. Ein dünner Mann, fast krankhaft hager, sehr bleich im Gesicht, krumme Haltung. Der hat sich danach nie wieder blicken lassen.»
    «Und der andere?»
    «Der kam schon früher. Allein. Das ganze Gegenteil. Ende vierzig, durchtrainiert, auf die übertriebene Art, wie junge Männer heute sind, kennt man ja. Bodybuilding, und dann mit fünfzig der erste Infarkt. Er trug Schuhe mit langen Spitzen und einen Anzug, ein bisschen wie ein italienischer Gigolo. Er stürzte hier rein, fragte nach Solowjow und marschierte ohne Umschweife zu ihm ins Zimmer. Dort steckte er sich gleich eine Zigarette an. Drei andere Patienten lagen in dem Zimmer. Die Schwestern haben was gesagt, die sind ja nicht zimperlich, er hat sie nur angebrüllt.»
    Die Tür ging auf, Kowalenkos Hand griff blitzschnell nach der Banknote. Eine Schwester legte ihm einen Stapel Papiere vor. Als sie wieder raus war, schob er den Schein in seine Brusttasche.
    «Honorar für mein mündliches Gutachten», sagte

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