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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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Ihr Kaffee. Sie wollen ja heute sicher allein frühstücken.» Einen mitleidig-vorwurfsvollen Blick auf seine Zeichnung konnte sie sich nicht verkneifen.
    Als er damals von der Rennbahn in Hoppegarten in die alte City West zurückversetzt worden war, hatte sein Schichtleiter in der Wach- und Schutzgesellschaft, ein gutmütiger älterer Mann, ihn getröstet: «Freuen Sie sich, müssen Sie nicht mehr so weit fahren.»
    Er konnte nicht wissen, dass Konrad genau das wollte – möglichst weit weg sein. Die Rennbahn war der einzige Ort, an dem er hoffen konnte, der Frau noch einmal zu begegnen. Jeden Morgen nach Dienstschluss wanderte er einmal um die weite Bahn, die sich aus dem Nebel schälte. Ein Gedenkritual. Die Versetzung war eine Degradierung, es fühlt sich für ihn an, als hätte man ihm wieder Windeln angelegt. Er spürte die unförmige, drückende Masse zwischen den Beinen. Seine Oberschenkel erinnerten sich daran, wenn die Trainingshose sie beim Waldlauf an der Innenseite wund scheuerte.
    «Man hat an der vordersten Front der Wirklichkeit gestanden, und dann soll es das plötzlich gewesen sein?» Hatte Wolfgang Krynitzki gesagt.
    Das Bankgebäude aus Glas und Stahl an der Nürnberger Straße war nicht weit vom Zoologischen Garten entfernt, trotzdem gab es dort keine Tiere. Dort lebte gar nichts. Nicht einmal tote Ratten lagen herum. Versteckt im Dunkel des Kundenraumes, sah er vor der Glasfront Passanten vorübergehen. Nachts um drei kam ein Kollege vorgefahren und vergewisserte sich, dass Konrad noch lebte. In den schwarzen Rechenschränken vollzog sich still ein körperloser, bargeldloser Verkehr, erkennbar nur an den flackernden roten Lämpchen. Es roch nicht nach Schweiß, sondern nach Kunststoff und Reinigungsmitteln. Morgens kam die Putzfrau aus Hohenschönhausen, mit der er sich inzwischen gut verstand. Er bewunderte ihre Ausdauer: Ihr Mann war nach Hamburg abgehauen und hatte zuvor die auf Kredit gekaufte Schrankwand zertrümmert.
    Gerade eben hatte eine Geschichte anfangen wollen – und schon war er wieder zurück im satten, um die eigene Vergangenheit amputierten Westen, äußerlich unversehrt, innerlich unbefriedigt, zurück in der alten Soße, in der alles stillstand, irgendwie auch in seiner späten Jugend. Wie ein verlorener Sohn. Nur weil er den Zettel mit der Telefonnummer verloren hatte. Er kam zurück wie aus dem Krieg. Die andere Welt war dort geblieben, ohne die lebendige, fraglose Verbindung, die man zu wichtigen Menschen und Dingen im Leben aufbaut. In dieser Bank fühlte er sich noch ausgeschlossener von der Welt, als hätte man die Mauer der DDR um ihn wieder hochgezogen.
    Mein Gott, dachte er jetzt, in diesem desinfizierten Kinderzimmer in Kiew sitzend, als hätte er Mitleid mit dem jungen Mann, der er damals war. Was hast du nur in diesem kleinen Osten gesehen, in dieser tristen DDR ? Romantisch war sie doch nur, weil sie all die Jahre hinter Stacheldraht lag. Ihr ganzer Reiz entfaltete sich nur in deinem Kopf. Anfang der neunziger Jahre hatten Marlene und er in Brandenburg nach einem alten Bauernhaus gesucht. Damals war das billig, alle wollten raus aus der Stadt, waren auf der Suche nach der Romantik dieses anrührend schlichten, früh gealterten Landes. Dort draußen leben, in der stolzen Unberührtheit des zerfallenen Sozialismus. Mit dem Auto fuhren sie die Gegend östlich Berlins ab, bis zum Oderbruch. Am Ende war es dann gerade die Atmosphäre, die sie abschreckte. Von Unberührtheit konnte keine Rede sein, alles war tausendmal betatscht, und so ordentlich, so verdammt brav. Sogar Marlenes Begeisterung für das sozialistische Experiment konnte ihr den Blick dafür nicht mehr verstellen. Wie Jacek gesagt hatte … Die sorgfältig gemähten, mit Ecksteinen gefassten Rasenflächen. Das geschlechtslose Grau der schmalen Dorfstraßen, auf denen kein Mensch sich sehen ließ, nicht mal werktags. Stattdessen die misstrauischen Blicke, die sie hinter den Gardinen vermuteten. Menschen, die vierzig Jahre sauber und untadelig gelebt hatten und auch jetzt nicht auffallen wollten.
    In den Ställen der Rennbahn war eines Nachts ein Hengst aus seiner Box entwischt. Irgendwer hatte den Riegel nicht richtig zugeschoben. Groß und schwarz stand das Pferd im Mittelgang. Konrad war unsicher, sprach lange beruhigend auf das Tier ein, ohne sich von der Stelle zu rühren. Irgendwann tat der Hengst einige Schritte auf ihn zu. Konrad griff nach dem Zaum und konnte ihn tatsächlich in die Box

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