Der wahre Sohn
sitzen, dann warf sie das Besteck hin und lief aus der Küche.
«Und wissen Sie, wer das ist?», rief er ihr hinterher.
«Ich ertrage es nicht, wie Sie mich behandeln.»
Er schob den Stuhl zurück, lief in den dunklen Flur, hörte ihr Schluchzen aus dem Schlafzimmer. Eine Weile blieb er wortlos im Türrahmen stehen, bis er im Dunkeln ihre Umrisse erkannte. Sie lag quer über dem Bett, auf dem Bauch. Er setzte sich auf den Bettrand. Es schüttelte sie. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter.
«Sie hassen mich. Wie ein Ungeheuer. Eine Frau, die kein eigenes Kind hat. Die nicht lieben kann.»
«Das ist nicht wahr.»
«Doch. Ich hatte gehofft, wenigstens Sie würden mich verstehen.»
Es kam jetzt nicht sehr darauf an, was er sagte und ob er überhaupt etwas sagte. Er ließ die Hand auf ihrem Rücken, er berührte den Körper einer alten Frau und hatte doch das Gefühl, alles wahrhaft Lebendige in ihr sei ewig jung.
«Sie glauben, mein Leben wäre leicht gewesen», sagte sie, als ihr Schluchzen in einen ruhigeren Atem übergegangen war. «Vielleicht, weil Sie selbst nichts anderes kennen. Ihr Leben dort im Westen ist bequem und einfach. Aber uns halten Sie für privilegiert, Offizier und Funktionär, mit eigener Wohnung. Der muss dann ja einen teuren Mercedes fahren, aber klar. Es tut mir weh, dass Sie mich so falsch, nur von außen sehen. Aber wie kann ich mich Ihnen offenbaren? Es fällt mir nicht leicht, meine Gefühle zu zeigen. Ich kann das nicht, ich musste immer hart gegen mich selbst sein. Mein Leben war hart zu mir. Meine Eltern haben mich streng erzogen. Mein Vater – bevor er im Krieg geblieben ist, 1914 –, mein Vater hat mich geschlagen. Ich war nie zimperlich. Er schlug mich mit seinem Gürtel, und ich habe mir eingeredet: Er schlägt dich, aber er liebt dich. Bei jedem Schlag: Er schlägt dich, aber er liebt dich. Mein ganzes Leben lang. Mein eigenes Kind …»
Sie stockte.
«Was ist mit Ihrem Kind?»
Sie schwieg lange. Dann klang ihre Stimme verändert, grau.
«Mein eigenes Kind habe ich gegeben.»
«Was haben Sie getan?»
Sie schwieg. Er drückte die Hand ganz leicht zusammen und spürte ihre Nackenmuskeln.
«Erzählen Sie mir, was Sie getan haben.»
«Für die Revolution. Als Sie nach diesem Bruder gefragt haben, dachte ich, Sie meinen … ich dachte an einen Menschen, der beinahe Arkadijs Bruder geworden wäre. Das ist lange her, ewig lange.»
Dann brach sie wieder in Tränen aus. Er hielt sie fest, mit beiden Händen auf ihren Schultern, bis sie sich beruhigte.
«Mein Kind wäre vielleicht geworden wie Sie.»
«Ihr Kind?»
«Was meinen Sie, warum wir damals Arkadij adoptiert haben? Ich hätte ein eigenes Kind haben können, mit Anfang zwanzig. Ich war schwanger, aber es war von einem anderen Mann. Ich kannte ihn schon vor meiner Ehe. Ich hab Schluss gemacht, als ich erfuhr, dass seine Eltern Bürgerliche waren, ich war furchtbar enttäuscht. Er hatte mir das verheimlicht. Familie und all das zählte damals nicht, wir wollten alle Kräfte für die bolschewistische Revolution geben. Dann stellte ich fest, dass ich schwanger war. Abtreibungen waren damals erlaubt. Sie waren gang und gäbe.»
«Das tut mir leid», sagte Konrad. «Und das beschäftigt Sie noch heute?»
«Seit Sie gekommen sind.»
«Wie bitte?»
«Seit Sie hier sind, denke ich immer öfter daran. Ich weiß nicht, wieso. Vielleicht, weil Sie mich an ihn erinnern. Weil Sie ihm ähnlich sind.»
«Was ist das für Unsinn? Sie können doch nicht wissen, wie er ausgesehen hätte.»
«Doch, ich weiß es.» Er hörte fast glückliche Unbeirrbarkeit in ihrer Stimme. «Es war furchtbar. Mehrere Frauen in einem Saal, wir warteten auf den Eingriff. Dieser Geruch, ein Geruch nach Haut, Eisen, Blut, nach weiblichen Öffnungen, nach Desinfektionsmitteln. Bis heute fällt mir das alles wieder ein, sobald ich Babyöl rieche. Ich weiß nicht, wie sie das damals gemacht haben. Ich sah nur das rote Zeug in den Blecheimern neben den Betten. Blasen, Bläschen. Liebe würde man nie kollektiv machen, aber dieses Gegenteil davon, das erledigten sie wie am Fließband. Die Betten standen nebeneinander, nur durch aufgehängte weiße Laken getrennt.»
«Wer war denn der Vater?», fragte Konrad. Er sah sofort eine neue Gestalt in der Konstellation, so absurd das auch war.
«Ich war damals sehr verliebt. Ich habe ihn bewundert. Der erste Mann. Sie müssen bedenken, ich war erst Anfang zwanzig, und noch ziemlich naiv.»
«Lebt er
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