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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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noch?»
    Sie überhörte die Frage.
    «Und wofür? Sie sehen ja, dass alles kaputtgegangen ist, was wir aufgebaut haben, der Sozialismus, die Stärke und der Stolz unseres Vaterlandes. Heute ist wieder genau die Bourgeoisie an der Macht, die wir damals bekämpft haben. Übrigens die Nationalsozialisten auch, die waren auch gegen die Kosmopoliten. Alles verschachert. An die Oligarchen. Ans ausländische Kapital. Wozu dann das alles? Vielleicht denke ich deshalb wieder an mein Kind, das ich geopfert habe. Aber das macht mich eben auch stolz. Und hart.»
    Konrad saß unbequem, über sie gebeugt, mit gestreckten Armen. Er ließ eine Hand in die Mulde ihres Rückens wandern und setzte sich auf.
    «Die zwei, drei Monate, in denen ich das Kind in mir trug, begann ich es zu lieben. Meine Hoffnungen, meine Liebe konzentrierte sich auf dieses beginnende Wesen.»
    «Und dann?»
    «Dann wurde es weggemacht.»
    Sie vergrub das Gesicht im Kissen und ließ sich von ihrem Weinen schütteln. In so einem Zustand hatte er sie noch nicht gesehen. Dann hielt sie inne und rang um Fassung.
    «Wissen Sie, wie leer die Welt sein kann, weil nur ein Wesen darin fehlt, ein einziges? Entschuldigen Sie», sagte sie, stand auf und verschwand. Er hörte die Badezimmertür.
    Nach einer Weile kam sie verheult zurück und setzte sich neben ihn aufs Bett.
    «Leer. Leer. Mitten im größten Gedränge.» Ihr Ton war fester. Auch die leichte Verächtlichkeit war wieder da. «Draußen kam der Aufschwung. Die sogenannte Neue Ökonomische Politik. Die feisten kleinen Händler wagten sich aus ihren Rattenlöchern, in die die bolschewistische Revolution sie gescheucht hatte. Sie witterten Morgenluft. Plötzlich gab es wieder mehr zu essen, Märkte wurden erlaubt, die Bauern durften ihre Sachen verkaufen. Auf einmal sah man wieder überall die dicken, karminroten und braunen Gesichter der Bäuerinnen mit ihren fettigen Lippen. Mein Gott, was für widerwärtige Weiber. Fressen und kacken, entschuldigen Sie, das war alles, was sie konnten. Und Kinder kriegen natürlich. Wir hatten für die Revolution gekämpft, für das Ideal. Wir hatten uns geopfert und lebten asketisch. Für die revolutionäre Idee. Und da diese halben Tiere. Die verstanden nicht, was eine Kolchose ist. Sie arbeiteten nur, wenn es zu ihrem eigenen Nutzen war. Wenn sie auf ihren Feldern nichts mehr zum Fressen fanden, zogen sie uns nach in die Städte, wie Herden, die sich irgendwo da draußen im Nebel vermehrten und sich zusammenrotteten.»
    «Aber Olha», wandte Konrad ein, ganz sinnlos.
    «Lebensmittel, Gemüse, Fleisch kam auf die Basare. Aber während alle anderen immer reger und fröhlicher wurden, fühlte ich mich wie innerlich abgestorben. Man sagt das so, aber ich sah wirklich schwarz, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich weiß noch, wie ich einmal besinnungslos über den Markt lief, geblendet vom Sonnenlicht, von dem bunten Obst und dem Fleisch. Alles Schöne war eine Verhöhnung, und ich dachte beim Anblick der Äpfel und Roten Bete, an denen noch Schwarzerde klebte, und besonders beim Anblick der Schweinehälften: Ihr Lügner! Nehmt eure Masken ab! Wozu brauche ich jetzt diese Lebensmittel? Welches Leben sollen sie denn noch ernähren? Wem soll ich sie nach Hause bringen? Ihr Ungeheuer, habt fein gewartet, bis mein Kind tot ist. Wo habt ihr das alles so lange versteckt? Ich wurde so traurig, das können Sie sich nicht vorstellen. Ich konnte essen, aber mein Sohn nicht. Ich hätte gern gehungert für ihn, hungern konnte ich. Anfang der zwanziger Jahre war ich zehn, da herrschte die große Hungersnot in Russland. Von da an konnte ich nie über Mangel an Appetit klagen. Aber jetzt war mir der Appetit auf alles vergangen, auch auf das Leben.»
    «Warum haben Sie danach kein Kind mehr bekommen?»
    «Unfruchtbar, vom Eingriff. Haben die Ärzte gesagt. Und wissen Sie was? Es ist vielleicht eine große Sünde, das zu sagen, aber wenn ich Ihnen schon so viel erzählt habe, sage das jetzt auch noch. Ich muss oft daran denken.»
    Er nickte nur. Sie setzte sich auf das Bett und schob ihren Rücken an die Holzwand.
    «Es ist merkwürdig, dieses eine, einzigartige Wesen, das noch gar keine erkennbaren Züge hatte, weil es sich nicht entwickeln, nicht gedeihen konnte. Immer wenn ich an die Toten denke, die nach ihm gestorben sind, die Millionen Toten des Krieges und die Toten von Babij Jar und was ihr mit den Juden gemacht habt und mit diesen armen Bauernjungs, die kein Verbrechen begangen hatten, die

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