Der wahre Sohn
nur an die Zukunft der Sowjetmacht glaubten, dann kann man das ja eigentlich gar nicht vergleichen. Was zählt dagegen ein einzelner, noch dazu ungeborener Mensch. Die Masse der anderen ist schon durch ihre ungeheure Zahl viel beeindruckender, eine große, bedrohliche Armee von Schatten. Und dennoch sehe ich immer nur mein Kind vor mir, und der Gedanke an mein Kind macht mich todtraurig. Jedes Mal, wenn er mir in den Sinn kommt. Jedes Mal.»
Wieder Tränen.
«Das verstehe ich doch. Schließlich wäre es Ihr Kind geworden. Das Eigene steht einem immer näher.»
«Seien Sie doch nicht so grob. So meine ich das nicht. Es ist, weil bei ihm alle Möglichkeiten da waren, weil sie ungenutzt geblieben sind. Es ist, als wäre jede seiner Möglichkeiten unendlich viel realer als die Wirklichkeit. Das ist erschreckend. Seine Wirklichkeit ist noch in voller Größe da, sie ist noch nicht abgelebt.»
«Abgelebt?»
Не отжила своего . Dieses russische Wort hatte Konrad noch nie ausgesprochen gehört.
«Ja. Ein Mensch wird geboren, er lebt und geht auf wie eine Blume, und dann fällt sein Leben von ihm stückweise ab. Es ist abgelebt, sozusagen. Aufgezehrt. Aber mein Sohn wartet bis heute auf seine Verwirklichung. Und er wird ewig darauf warten müssen. Ich weiß, das klingt fast religiös, dabei wissen Sie, dass ich ganz und gar nicht gläubig bin. Vielleicht rede ich auch Unsinn. Aus meinem Sohn hat nie etwas werden können. Ich habe das verhindert, ich war so viel stärker als er, auch wenn ich erst zwanzig war. Ich habe ihn zerdrückt wie eine Fliege auf dem Fensterbrett. Einen kleinen Säugling zerdrückt wie eine schmutzige Fliege. Das ist die größte Sünde. Dass er nie entstanden ist und ich deshalb nicht weiß, was aus ihm alles hätte werden können. Manchmal bekomme ich richtig Angst vor dem, was er hätte werden können.»
Sie verlor jetzt den Rest ihrer Selbstbeherrschung, brach wieder in Schluchzen aus. «Manchmal erscheint er mir nachts im Traum. Ein Riese, der an mein Fenster klopft und zu mir hereinwill.»
Als Konrad schon dachte, sie hätte sich beruhigt, kam noch ein Schluchzer, das letzte Beben des Zwerchfells nach der ausgiebigen Entladung. Dann sagte sie mit einer anderen, helleren, fast musikalischen Stimme:
«Er hätte ein lieber, naiver Junge werden können, so wie Sie, ein wunderbarer Musiker, ein Künstler, ein bedeutender Politiker, es hätte der neue Heiland werden können.»
«Oder ein zweiter Stalin», sagte Konrad.
Sie hielt empört inne, aber in ihrer Erregung konnte oder wollte sie nicht widersprechen. Sie zog die Nase hoch.
«Für Sie ist Stalin ein Ungeheuer, ich weiß. Schade, dass Sie immer alles glauben, was in Ihren Zeitungen steht. Weil mein Sohn alles hätte werden können, war er auch alles. Ich allein habe das verhindert. Und ich weiß nicht, wieso dieser Gedanke mich jetzt immer öfter quält. Vielleicht weil alles andere so leer und hässlich geworden ist. Seit Jurijs Tod habe ich niemanden mehr. Über was soll ich mich freuen, über Arkadij? Einen hässlichen, verrückten alten Mann, der aus dem Mund riecht? Deshalb waren Sie …»
«Was?»
«Ein Lichtblick. Ein heller Mensch, der plötzlich in mein Leben trat. Sie waren so verloren, als Sie hier ankamen, so einsam. Irgendetwas war mit Ihnen passiert. Das habe ich sofort gesehen. Sie tauchten auf und haben mich bezaubert. Jetzt darf ich das sagen. Auch weil Sie Deutscher sind. Plötzlich hatte alles wieder Sinn, als wäre eine große Lücke geschlossen, nach fast fünfzig Jahren. Deshalb verletzt es mich so, wenn Sie mich nicht verstehen. Sagen Sie mir, ob Sie mich verstehen.»
«Ich verstehe sehr gut.»
«Natürlich, es hätte auch ein Alkoholiker werden können. Oder einer von den vielen Kriminellen.»
Genau, dachte Konrad.
Sie hielt inne.
«Aber das hilft nichts, oder nur eine Zeitlang. Manchmal denke ich daran, dass Millionen junger Soldaten im Krieg gefallen sind. Oder sage mir, dass Tausende Frauen das Gleiche gemacht haben wie ich. Aber das sind alles nur Gedankenspiele, sie helfen nur eine kurze Weile. Und dann überfällt mich wieder diese Trauer, wie eine Sturmflut.»
Sie schnäuzte sich.
«Sie sind der erste Mensch, mit dem ich darüber sprechen kann.»
Sie sah ihm in die Augen und wich dem Blick gleich wieder aus.
«Vielleicht verstehen Sie jetzt, wie ich aufgeheult habe, als ich begriff, was für einen hässlichen, geistig kranken Menschen wir uns in die Familie geholt
Weitere Kostenlose Bücher