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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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Lenkrad.
    Irgendwann in der Nacht begann das Auto zu schaukeln. Man wird nicht sofort wach, wenn es schaukelt, im Gegenteil, kleine Kinder wiegt man ja sogar in den Schlaf. Als dann aber auch noch Geräusche zu hören waren, erwachte Konrad. Im ersten Moment wusste er nicht, wo er war. Er setzte sich auf, roch die alten, muffigen Sitzbezüge, die Zigarettenstummel im Aschenbecher, den er erst jetzt sah, und warf einen Blick auf die Rückbank. Die liegende, dunkle Figur musste Arkadij sein. Er rührte sich nicht. Jemand kratzte an der Beifahrertür. Konrad spähte und versuchte, etwas zu erkennen. Etwas scheuerte am Blech, ein Geräusch wie von Haaren, aber er konnte nichts sehen. Erst als er das Schmatzen hörte und bald auch ein Grunzen, ahnte er, dass es Wildschweine sein mussten. Dann sah er die großen schwarzen Rücken, die um den Wagen hin und her wogten und immer wieder gegen die Karosserie stießen. Er wollte, ohne die Tiere zu verscheuchen, Arkadij wecken und es ihm zeigen, der reagierte nicht auf sein leises Rufen. Konrad ließ sich tiefer in seinen Sitz gleiten und schlief ein, aufgehoben in dieser Karosserie wie in einer Wiege.
     
    Arkadij erwachte am anderen Morgen als Erster. Er setzte sich auf und kurbelte die Scheibe herunter.
    «Kannst du noch mal wiederholen, was du über den Unterschied zwischen dem Auto und Olha gesagt hast?», fragte er in einem Ton, als hätten sie ihr Gespräch gerade eben unterbrochen.
    Konrad wurde von seinen Worten wach und schauderte in der kalten Morgenluft, die an seinen Nacken wehte. Er wälzte sich herum und stöhnte. Als er durch seine schlafverklebten Augen nach draußen blinzelte, erkannte er nicht viel. Alles war in dichten, weißen Nebel gehüllt. Arkadij wiederholte seine Frage.
    «Was?»
    «Das mit Olha und dem Auto. Etwas mit Tag und Nacht.»
    «Das hast du gesagt. Nicht ich. Ein Unterschied zwischen Tag und Nacht.»
    «Halt mal an!», rief Arkadij.
    «Wir stehen», seufzte Konrad, öffnete die Tür und setzte einen Fuß auf den Boden. Die Schwarzerde war aufgewühlt und wie von Bombentrichtern übersät, in denen ein Rest Feuchtigkeit glänzte.
    «Piwdjen ist doch Norden, oder?»
    «Süden, soweit ich weiß. Piwdjen ist der halbe Tag, die Mitte des Tages. Es bedeutet Mittag oder Süden.»
    «Nein. Sie hat immer gesagt, ihr Dorf liegt im Norden. Piwdjen.»
    Er wies mit dem Zeigefinger der linken Hand nach links, mit dem rechten nach rechts.
    «Piwdjen ist Süden», sagte Konrad. «Norden ist Piwnitsch. Piwnitsch ist die halbe Nacht, also Mitternacht, und gleichzeitig Norden. Es klingt nur so ähnlich.»
    «Ein Unterschied wie zwischen Tag und Nacht», flüsterte Arkadij entgeistert.
    «Wir haben nichts zu essen», sagte Konrad. «Ich kriege allmählich Hunger.»
    «Wir müssen zurück!»
    «Du willst zurück nach Kiew?»
    «Nein, weiter. In den Süden. Ich habe mich geirrt.»
    «Das fällt dir jetzt ein? Nach einem halben Jahrhundert?»
    «Egal. Wir haben keine Zeit zu verlieren.»
     
    Schnell ging es trotzdem nicht. Kaum waren sie auf einer größeren Straße zurück, blieb ihr Auto liegen. Die Tankanzeige hatte schon länger im roten Bereich gestanden. Konrad lenkte den Wagen auf den Seitenstreifen, sie stiegen aus und hielten ihr Gesicht in die Sonne. Niemand hielt auf ihr Winken an.
    «Die Menschen sind herzlos geworden», sagte Arkadij traurig.
    Nach einer Stunde näherte sich doch ein nagelneuer, aluminiumgrauer Mercedesbus mit ukrainischem Kennzeichen und verlangsamte seine Fahrt. Ein paar Meter nach ihnen hielt er an. Der Fahrer drehte misstrauisch die Scheibe herunter und fragte, was los sei, da stiegen einige Fahrgäste schon aus und vertraten sich die Beine. Es waren französische Touristen, die in die Sperrzone wollten.
    Konrad konnte den ukrainischen Fahrer überreden, ihnen ein paar Liter Benzin zu verkaufen. Er hatte nichts im Kanister, sondern steckte einen Gummischlauch in den Tank und saugte etwas davon ab. Beim Zahlen merkte Konrad, dass sein Bargeld zur Neige ging. Eine seltsame Begegnung. Als er diesen aufgeweckten Westlern gegenüberstand, die sie neugierig musterten und anlächelten, wurde ihm das Absonderliche seiner Situation bewusst, gerade im Kontrast zu ihrer freudigen Angst. Er hatte den Eindruck, man könnte ihm etwas ansehen, ihm seinen Fiebertraum anmerken und ihn ins nächste Krankenhaus bringen. Er wechselte ein paar Worte in holprigem Französisch. Wie hätte er erklären sollen, was sie hier suchten? Die anderen wollten für

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