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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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Knie. Sein grau glänzender Anzug hatte vom Regen dunkle Flecken und warf unschöne Falten. Die Frauen standen im Halbkreis um ihn herum.
    Olha Jewgenijewna Holota.
    Der Name stand in polierten Bronzelettern auf dem dunklen, glattgeschliffenen Stein, der einen Haufen Geld gekostet haben musste. Über ihrem Namen prangte ein kleines, ovales Medaillon, ins weiße Metall war in graubraunen Farbtönen die Fotografie gebrannt. Konrad erkannte die junge Frau, die er auf den Fotos bei Svetlana gesehen hatte. Die Frau, die Arkadij an der Hand gehalten hatte. Die Aufnahme musste kurz nach dem Krieg entstanden sein, Olha wirkte sehr jung. Ein schmales Gesicht mit apfelrunden Wangen, deren Schattenlinien vom Künstler des Emaillebildes nachgezogen sein mochten, und einer sehr kräftigen Nase. Breit und rund die gewölbte Stirn, dunkle Augenbrauen. Das rabenschwarze, fast struwwelige Haar war für eine Frau sehr kurz geschnitten.
    Gestorben am 16 . April 1969 . Mit nur einundfünfzig Jahren. «Holota?», fragte Konrad.
    «Ja, das war ihr Geburtsname», antwortete eine der Frauen.
    Olha hatte ihrem Sohn den richtigen Vatersnamen gegeben, bei der Taufe. Jurijs Namen. Wasyl Jurjewitsch Holota.
    «Wer hat diesen Grabstein aufgestellt?», fragte Konrad.
    «Ihr Sohn.»
    «Was macht er, wo ist er? Kommt er ab und zu vorbei?»
    «Ja, und immer um diese Zeit. Er pflegt das Grab auch selbst», sagte endlich eine. «Wasyl ist sehr großzügig. Er hat viel Geld für unser Dorf gespendet. Das Kulturhaus renoviert. Jetzt können wir wieder Tanzabende veranstalten.»
    Als Olha starb, war Konrad dreizehn gewesen, seit fünf Jahren ohne seine Mutter in Berlin. Hat Autos zerkratzt und Sehnsucht nach ihr gehabt.
    Arkadijs Seufzer klang wie ein Schluchzen.
    Was war bei Arkadij gewesen?
    Arkadij war neununddreißig Jahre alt gewesen und hat von nichts gewusst. Die ganzen letzten fünfundzwanzig Jahre hat er nichts von ihrem Tod gewusst. Hat sich weiter nach ihr verzehrt. Hat nicht sie verzehrt, sondern sich selbst. Hat sie nicht sterben lassen wollen in seinem Kopf, welch übermenschliche Anstrengungen ihn das auch gekostet haben mag. In seinem Kopf war sie gut aufgehoben. In der Wirklichkeit draußen musste er um sie fürchten, musste panisch nach ihr suchen, um sie noch zu retten. Er hat sie in Käfigen gesehen. Hat seine Landkarten vergrößert, verkleinert, übereinandergelegt, verschoben. Hat nie auch nur denken wollen, dass sie für immer aus dieser Welt verschwunden sein könnte, und wusste es wohl auch nie, niemand hatte es ihm gesagt. Ist täglich in seinen Betrieb gefahren, hat im Bus die Prawda gelesen, über die imperialistischen Kriege in Afrika, den chinesisch-sowjetischen Grenzkonflikt am Amur, die immer wieder großartige Übererfüllung des Fünfjahrplans, hat Breschnew im Fernsehen auf den Parteikongressen reden, auf Tribünen winken und über Empfänge staksen sehen, all diese großen Geschichten, die sich über die Wirklichkeit legen wie ein undurchsichtiger, glänzender Firnis – und ist in Gedanken doch ganz woanders gewesen, bei seiner kleinen, viel bedeutenderen Geschichte. Hat gearbeitet, geträumt und sein Geheimnis in sich getragen. Hat auf alle mögliche Weise versucht, mit ihr fertig zu werden, in ihre Nähe zu gelangen. Jeder Geruch von früher, jede Leinenbluse, jede Kleinigkeit, die ihn irgendwie an sie erinnerte, hat die Hoffnung wiederaufleben lassen. Er hat versucht, den Kontakt mit ihr aufzunehmen. Gehofft, sie müsste etwas von seiner Sehnsucht mitbekommen. Hat in die Welt hineingehorcht, nach irgendeinem Signal von ihr. Und hat in all seinem Wittern und Wachsein etwas so Grundsätzliches, etwas so Schwerwiegendes wie die Auflösung ihres Körpers nicht registriert. Kein Echo, kein Zittern, keine gleichen Wellenlängen, keine Quantenidentität. Nichts, bei aller Liebe.
    Man weiß ja, was von diesem Wort zu halten ist.
    Verflucht sei alle höhere Physik.
    «Wo warst du im April 1969 ?», fragte Konrad. «Weißt du das noch? Was hast du damals gemacht?»
    Arkadij schüttelte den Kopf.
    Schon so lange her, das alles.
    Konrad stand schweigend neben ihm.
    «Da ist sie», sagte Arkadij und zeigte auf den Grabstein.
    Konrad nickte stumm.
    «Weißt du, sie hat immer …»
    «Ja?»
    «Sie hat immer …»
    «Ja?»
    «Hat immer …»
    Und wie er diesen hilflosen Halbsatz immer von neuem aussprach und nicht weiterkam, immer neu anlief gegen den Redekrampf, wie eine Maus, deren vom Eisenbügel gebrochener Rücken auf und

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