Der wahre Sohn
ab zuckt, roch Konrad diesen Geruch. Es roch verschmort, wie wenn der Anlasser ein Dutzend Mal rotiert und den Motor trotzdem nicht wieder zum Sprechen bringt. Irgendwann wird diese Wut riechbar. Dann steigt der Gestank von heißem Draht oder verbranntem Öl aus dem Motorraum. Konrad wusste nicht, ob es Einbildung war. Vielleicht war es der Geruch des Benzins an seinen Fingern, vielleicht Arkadijs Achseln, das Mottenpulver im alten Anzug von Jurij Solowjow, oder etwas aus den Kleiderschichten der umstehenden Frauen. Jetzt glaubte er, eine Spur Katzenpisse darin zu erkennen, beißend scharfer Urin, zweifellos, aber dazu noch etwas anderes. Abgebrochene Zweige. Die kräftigen, dunklen, gelb gepunkteten Äste des Faulbeerbaums, dessen weißliches, feuchtes Holz der Länge nach splittert, aber nie brechen will, und das diesen Geruch ausstößt wie ein verletztes Tier. Ein bitterer Geruch, der einem die Sinne raubt. Ein Geruch wie ein Stachel. Und was, wenn man diesem Mädchen dennoch nahekommen wollte? Wenn man zärtlich zu ihm sein wollte? Man hätte den Verstand verlieren können über diese Unmöglichkeit.
Einmal im Leben hatte sie sich darauf eingelassen, einmal. Sie hat Jurij Solowjow geglaubt, vielleicht hat sie ihn sogar gemocht, von Liebe wollen wir nicht reden; oder er hat sie einfach gezwungen. Niemand wird es je herausfinden.
Der alte Jurij hätte erzählen können, wie es war. Mit Olha. Im Auto. Oder im Wald. Ihre Heiterkeit. Ihr Lachen, das sich im Birkengehölz entfernte. Anfangs sah Arkadij noch ihr helles Kleid durch das Schwarzweiß der Stämme blinken, bis es nicht mehr auszumachen war. Auch der schmale, dunkle Rücken seines Vaters war bald im Wald verschwunden. Der kleine Arkadij wartete, eingeschlossen in der Karosserie.
«Sie hat immer … Wir, wir haben das immer gespielt.»
«Was?»
«Tod.»
«Was heißt Tod?»
«Tod gespielt. Kennst du das nicht? Einer hat sich tot gestellt, sich ganz still gehalten. Der andere musste die Leiche finden.»
Die Tränen liefen ihm über das Gesicht, während er lachend erzählte.
«Du kennst ja unsere Wohnung, sie ist nicht groß. Aber sie hat es immer geschafft, sich so gut zu verstecken, dass ich lange nach ihr suchen musste. Einmal lag sie unter Svetlanas Bettdecke im Schlafzimmer und hatte sich ganz flach gemacht. Oder unter dem Gestell ihres Bettes. Im Kleiderschrank, hinter den Mänteln und Jacken. Oder im Klo, hinter der Tür. Mein Gott, wie dumm ich mich angestellt habe. Ich mache die Tür auf, gucke hinein, niemand da. Ich merkte sogar, dass die Tür nicht ganz aufging und dachte, da hängen Handtücher. Dabei stand sie dahinter flach an der Wand! Ich konnte mir nie ihre Verstecke merken. Aber jetzt habe ich sie!»
Er rutschte auf den Knien an den Stein heran, kroch, fast ein bisschen unappetitlich.
«Hab dich gefunden», sagte Arkadij und strich mit der flachen Hand über den Granit.
Was mag sie empfunden haben, als sie gehen musste? Hat sie Jurij Solowjow gehasst? Hatte sie ihn am Anfang vielleicht wirklich geliebt, hat er ihr Hoffnungen gemacht, um sie zu beschwichtigen? Hatte sie geglaubt, er würde als Vater ihres Kindes nachkommen, hat sie eine Zeitlang Sehnsucht gehabt und gehofft?
Konrad wollte noch etwas sagen, doch Arkadij beachtete ihn schon gar nicht mehr, wirkte ganz in sich versunken. Konrad stand eine Weile unschlüssig herum und wusste nicht, was tun. Wie lange er noch warten sollte. Er harrte aus, er konnte das. Und er war überrascht von der Situation. Der Anblick war erhaben und gleichzeitig würdelos, gleichzeitig irgendwie sehr klein.
«Vielleicht kriegt man hier irgendwo was zu essen», stieß Konrad mit kehliger, kraftvoller Stimme aus, um die Stimmung zu ändern. «Ich hab schon ziemlichen Kohldampf.»
Arkadij hörte nicht.
Es hätte nur noch gefehlt, dass die versammelten Frauen des Dorfes mit ihren garantiert hohen Singstimmen ostslawische Wehklagen intonierten … Konrad war ihnen dankbar, dass sie seine Befürchtung nicht wahr werden ließen.
Er hatte mit einem Mal genug von der Gefühlsduselei und dieser ausufernden, immer scharf am Wahnsinn vorbeischrammenden Phantasie des Ostens, die sich hier genussvoll entfaltete. Dieser Nekrophilie, von der Mazepa gesprochen hatte. Der sentimentalen Liebe der Menschen hier zu den Verstorbenen, die man zu Lebzeiten wie den letzten Dreck behandelt. Genug von dieser Unkenntnis der Grenzen oder ihrer mutwilligen Verletzung. Nicht mal ein Auto können sie so klauen, dass man
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