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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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wucherndem Flieder versteckt, unter Faulbeerbäumen und Holunder. Über den veilchenblauen, dunkelvioletten und weißen Blütenrispen summte die Luft.
    «Das könnte es sein.»
    Eine Frau mit einem Stoffbeutel kam ihnen entgegen, gefolgt von einem kleinen Hund. Arkadij kurbelte die Scheibe herunter.
    «Guten Tag. Können Sie uns sagen, wo Olha wohnt?»
    Aber gewiss doch. Olha kannte hier jeder. Sie stellten den Wagen ab und folgten der Frau zu Fuß. Sie brachte sie zu einem kleinen, flachen Haus mit geweißten Mauern. In der Tür erschien eine schmale, sehr gebückte Frau mit Kopftuch. Ihr Gesicht war so fein zerfurcht, dass es schon wieder schön war. Sie lächelte nicht, als sie sie mit klingender, milde bebender Stimme in ihr Haus einlud. Es gab Tee, Kompott und getrocknete Früchte. Arkadij war sehr zurückhaltend, fast schüchtern, als Olha ihn in die Arme nahm.
    «Arkadij hat das ganze Leben nach Ihnen gesucht», sagte Konrad. Die Alte nickte. Ihre weiße Stirn wölbte sich weit vor, die Augen lagen tief im Schatten. Man hätte denken können, sie sei blind. Olha hatte keine solchen vorgewölbten Brauenknochen gehabt, es fiel schwer zu glauben, dass ein Mensch sich im Alter so sehr verändert.
    «Arkadijs Mutter war ziemlich eifersüchtig auf Sie, stimmt’s?», fragte Konrad.
    «Sicher, es war nicht einfach. Sie wissen ja, alles so lange her.»
    «Arkadij hat mir erzählt, wie sehr seine Mutter Fischgeruch gehasst hat, Sie hatten damit überhaupt keine Probleme, nicht wahr?»
    Olha nickte tief, als würde sie in ein Tagesnickerchen versinken. Man konnte nicht sagen, was oder ob sie überhaupt etwas verstanden hatte. Arkadij schwieg die ganze Zeit.
    «Ich staune dennoch, wie Sie die schweren Jahre im Krieg miteinander ausgekommen sind, sie beide allein mit dem Kind in dieser Wohnung. Ludmila wäre ohne Sie nicht zurechtgekommen, oder?», fragte Konrad.
    «Welche Ludmila?», fragte Arkadij.
    Die alte Frau begann, ein Lied zu summen. Dann fragte sie erschrocken: «Was sagen Sie?»
    «Ich habe gesagt, Ludmila wäre ohne Sie nicht zurechtgekommen.»
    Sie öffnete den zahnlosen Mund mit dem einen, einzigen vorderen Goldzahn.
    «Oi, ja, jaj, das ist doch schon so lange her …»
    Konrad sah sie misstrauisch an. Aber Arkadij sagte: «Ja, das ist es wirklich. Weißt du noch, wie du mich immer in den Schlaf gesungen hast?»
    Sie begann, ein Wiegenlied zu summen. Dann verstummte sie, schloss wieder die Augen. Sogar die Lider wirkten dunkel in diesen tiefen Höhlen.
    «Sie erinnern sich noch, dass Arkadijs Vater in der Zentralbank tätig war?»
    Der Kopf der alten Frau nickte nach vorn, wohl vom Schlaf übermannt. Konrad zog Arkadij vor die Tür.
    «Diese Frau ist nicht deine Olha. Sie hat keine Ahnung von deiner Familie, sie kannte nicht einmal den Vornamen deiner Mutter. Wir fahren weiter.»
    «Aber sie hätte es sein können. Hast du nicht gesehen, wie freudig sie mich umarmt hat?»
    «Freudig umarmt! Geh rein, bedank dich für den Tee, wir müssen weiter.»
     
    Konrad begriff, dass dies eine Fahrt ins Nirgendwo werden konnte.
    «Wie sollen wir Olha jemals finden, wenn du keinen Schimmer mehr hast, wie sie aussah? Das ist hoffnungslos», ärgerte er sich. «Wir haben nicht ewig Zeit, hier durchs Land zu fahren.»
    Arkadij erwiderte nichts. Er sackte in den Sitz und stierte durch die Windschutzscheibe. Konrad spürte, dass ein Grat, eine Gräte nur, in diesem ausgemergelten Körper aufrecht und hart blieb. Ohne diesen kleinsten, unzerbrechlichen Punkt, ohne dieses Rückgrat, hätte er die jahrelange Behandlung in der Klinik nicht überstanden. Das war es – nachzugeben, den gewaltsam in ihn dringenden Ärzten keinen Widerstand entgegenzusetzen, aber auch keine Angriffsfläche zu bieten. Biegsam und beinahe unsichtbar zu werden, ohne die wahre, eigene Existenz jemals aufzugeben. Den Gegner zu täuschen, ein scheinbares Selbst vorzuschicken, das wie ein Außenposten die Aufgaben des wahren übernahm.
    Sie fuhren lange schweigend weiter, Konrad überkam Mitleid mit Arkadij, er wurde versöhnlich.
    «Ich kann dir versprechen, wir finden hier jede Menge Leute, die sofort bereit sind, irgendjemand zu sein», sagte Konrad. «Eine Rolle zu spielen, meine ich. Sie geben sich bereitwillig dafür her. Das sind einfach Menschen, deren Leben nicht abgerufen worden ist. Ihre Gene sind vom eigenen Volk bereitgestellt worden, sie wurden über die Steppe geweht wie die runden Samen der wilden Distel, sie haben sich ausgebreitet und

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