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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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ein paar Tage heraus aus der Langeweile ihrer Pariser Großstadtexistenz, dem täglichen Einerlei, der Berechenbarkeit ihres Lebens. Sie suchten den Kitzel, die unsichtbare Gefahr der Sperrzone. Sie machten hier Safari, und ihr Wild waren skurrile Alte, die strahlenverseuchte Pilze sammelten und aßen; Pilze, um die sie im Supermarkt zu Hause aus Prinzip einen großen Bogen machten. Wenn ihre Geigerzähler zu nervös wurden, wollten sie rasch zurück in ihre Sicherheit, behütet und geführt von ihrem Fahrer. Es war ein kalkuliertes Risiko, ein durchgeplanter Kitzel. Sie waren neugierige Zaungäste des Todes, sie wärmten sich am langsamen Sterben der anderen. Weil sie selbst davon so wenig wussten, weil bei ihnen alles in sterilen Kliniken geschah, wo sie es erst sahen, wenn sie selbst an der Reihe waren. So dass sie niemandem mehr davon erzählen konnten. Sie lachten und winkten durch die getönte Scheibe, als sie davonbrausten.
    Dachte Konrad auch nur eine Sekunde lang daran, sie um Hilfe zu bitten? Dass sie ihn hier herausholten, aus diesem anderen Land, aus dieser zweideutigen Situation? Nein, keinen Moment lang. Diese alte Welt war ihm verschlossen. Und er hatte ein Ziel.
    Sie waren auf dem Weg zurück, kamen an langen, schnurgeraden Bewässerungsgräben vorbei, fuhren um Kiew herum, auf die große Ausfallstraße Richtung Süden.
    «Wo müssen wir hin?», fragte Konrad.
    «Ob ich das noch schaffe?» Arkadijs Stimme klang zittrig.
     
    An der nächsten Tankstelle gab Konrad seine letzten Scheine für Benzin aus. Arkadij stieg eine Böschung hinauf und breitete seine große Karte über einen Teppich von blau blühenden, kurzen Gräsern.
    «Schau mal. Wie großartig, ganz neue Namen. Phantastisch. Eine unentdeckte Welt. Ich werde mein Leben auf den Kopf stellen müssen.»
    Konrad nickte.
    «Du hast die ganze Zeit stur im Norden gesucht?», fragte er.
    Arkadij schielte zu ihm hoch. «Und du, hast du dein Auto gefunden?»
    «Svetlana hat auch immer vom Süden gesprochen», fiel Konrad jetzt ein. «Da war die Hungersnot viel schlimmer. Wenn Olhas Familie verhungert ist, dann stammte sie wahrscheinlich aus dem Süden von Kiew.»
    «Suschtschani», sagte Arkadij.
    «Wie ist dir das jetzt plötzlich eingefallen?»
    «Hier steht’s doch.» Sein ungeduldiger, aufgeregter Finger fuchtelte über die Karte. «Ich erkenne den Namen.»
    Erklärungen braucht man nur für Dinge, die man nicht sieht.
     
    Nach drei Stunden erreichten sie das Dorf Suschtschani im Rayon Kagarlyk, Gebiet Kiew. 1941 war hier die Kolchose «Novye Zytta», Neues Leben, gewesen, fünfhundertneunundvierzig Einwohner hatte der Ort damals. Es bot sich das gleiche Bild wie in fast jedem der Dörfer, durch die sie gekommen waren. Häuser mit Strohdächern, modernere, aber auch schon verfallende Wirtschaftsgebäude aus Eternit und Wellblech. Irgendwo immer der Dorfladen, der Treffpunkt. Alte Frauen mit Kopftüchern. Wenige Männer, meist mit tiefen Furchen im Gesicht, ausgetrocknet vom Alkohol. Einer von ihnen kroch auf allen vieren über den Boden, wie ein Kleinkind. Sie fragten nach Olha, der Olha, die während des Krieges in Kiew war.
    «Was wollt ihr von ihr?», fragte eine Alte zurück.
    «Der hier ist ihr Pflegekind.»
    Aber gewiss doch, sie hat hier bis zuletzt gelebt.
    «Können Sie uns ihr Haus zeigen?»
    Sie wies wortlos in eine Richtung und ging voran, zu Fuß zogen die beiden hinter ihr her. Andere alte Frauen schlossen sich an.
    «Lebt sie nicht mehr hier?», fragte Arkadij.
    Mehrere Frauen machten ernste Mienen und setzten sich in der Gegenrichtung wieder in Bewegung. Konrad und Arkadij folgten.
    Konrad ging davon aus, dass es sich wieder um ein Missverständnis handeln würde, dass sie eine ganz andere Olha finden würden.
     
    Es war eine seltsame Prozession. Zwei Männer, der eine in zerknautschter Cordhose mit aufgerissenem Knie und einem Sakko, das bessere Tage gesehen hatte und von Lehm verdreckt war. Der andere in einem abstrus weiten, schlottrigen Anzug, und um sie herum eine ganze Schar älterer Dorfbewohnerinnen.
    Es begann zu nieseln, und ein warmer Frühlingsregen weichte den Weg auf. Es dauerte eine Weile bis zu dem kleinen, abseits gelegenen Dorffriedhof. Geradeaus führte der Weg in den Wald. Am Eingang, neben dem schief in den Angeln hängenden, schmiedeeisernen Tor, brach ein Mann junge Zweige von Sträuchern ab, die in den Gitterzaun hineinwuchsen.
    Konrad war noch gar nicht am Grab, da fiel Arkadij schon vor dem Stein auf die

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