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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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Innere zurückgezogen hatte. Wenn ich hier schon so lange aushalte, sagte er sich, dann wird das Gründe haben, und manches spricht dafür, dass die Entscheidung richtig war. Ich lebe ja zum Beispiel noch. Woanders hätte es mich vielleicht längst erwischt. Je länger man in so einer Gefangenschaft ausharrt, desto schlagender wird dieses Argument, desto auswegloser die Situation, desto unüberwindlicher die Angst.
    «Aleksej Tolstoj ist auch ein bedeutender Autor», hörte er Svetlana jetzt sagen, und dann: «Aber Sie können doch Sprachen, könnten Sie damit nicht eine bessere Arbeit finden?»
    Ja, sie war bodenständig, war viel zu klar, um anfällig für seine düsteren Phantasien zu sein. Was dachte er da auch über leere Gebäude in der Nacht? Von was für einem Inneren phantasierte er? Das war womöglich deutsch an ihm, sich überall in ein Inneres hineinzudenken, hineinzubohren. In den Reaktorkern von Tschernobyl, den rotglühenden Heizdraht des alten Bügeleisens, die Seele des Ganzen.
    «Seit drei Jahren mache ich ja auch was anderes. Ich suche nach gestohlenen Autos. Dabei verdient man jedenfalls besser als als Nachtwächter.»
    Sie nickte, aber er hatte den Eindruck, das Argument überzeugte sie nicht besonders.
    «Danke für den Kaffee.»
    Er stand auf, nahm seine Jacke und wollte gehen.
    «Ach», drehte er sich um, als er die Klinke der Wohnungstür schon in der Hand hatte. «Was ich Sie noch fragen wollte. Besitzt Ihr Sohn eigentlich ein Auto?»
    Svetlana stöhnte. «Besteht die Welt für Sie nur aus Autos? Ihr Männer seid wirklich alle gleich.»
    Konrad musste lachen.
    «Wissen Sie, wie froh ich war, als ich den Wolga meines Mannes endlich los war? Nach seinem Tod, meine ich. All das Gelaufe zu den Ämtern, die Formalitäten.»
    «Das haben Sie selbst erledigt?» Konrad horchte auf.
    «Wer hätte es mir abnehmen sollen?»
    «Dann können Sie mir beim nächsten Mal vielleicht noch etwas erzählen.»
    «Ich fand Autos immer langweilig.»
    «Ich auch», lachte Konrad. «Aber sind Sie nicht gern mit dem Wolga gefahren? Das war doch für sowjetische Verhältnisse ein toller Wagen.»
    «Gehasst habe ich ihn. Wenn mein Mann am Steuer saß, hat er alles um sich vergessen. Die Familie war für das Auto da, nicht umgekehrt. Wir mussten es loben und bewundern.»
    Als sie an der Wohnungstür standen, strich sie ihm einen Fussel von der rechten Schulter.
    Wenn eine Frau solche Dinge selbst in die Hand nimmt, kann sie kein Opfer sein. Ihr Mann hatte bestimmt zu kämpfen gehabt. Draußen in der Sowjetarmee mit ihren Männlichkeitsritualen ein befehlsgewohnter Oberst, wurde er zu Hause zu einem vielleicht nicht gehorsamen, aber nachgiebigen Ehemann. Um das zu wissen, genügte es, Svetlana zu kennen. Sie hatte das Sagen, sie war auf ihre Art so stark wie die Arbeiterinnen in den orange leuchtenden Schutzwesten, die in der größten Mittagshitze auf der Wladimirskaja standen und mit ihren Schaufeln widerspenstigen heißen Teer aus Drehtrommeln kriechen ließen, um ihn auf dem Straßenbelag zu verteilen, ohne Furcht vor der Dampfwalze, die ihnen auf den Fersen war. Svetlana hätte auch einen Lkw fahren können, so wie seine Mutter das in einem Traum getan hatte. Sie thronte ganz klein oben im Führerhäuschen des riesigen Lastkraftwagens mit fast mannshohen Reifen, in irgendeiner Erz- oder Kiesgrube, es hatte ihm sehr imponiert. Noch im Aufwachen war er richtig froh und stolz. Mit diesem erhebenden Gefühl fuhr er zur Uni, fühlte sich gleichsam gestärkt, als würde er selbst im Führerhäuschen sitzen. Er bildete sich ein, seine Mutter liege nicht irgendwo betrunken auf dem Sofa, sondern hatte ihre Kraft wiedergefunden, verdiente ihr Geld und war stark und unabhängig vom Vater.
    «Kommen Sie doch morgen zum Mittagessen.»
    Ja, warum nicht. Vielleicht konnte sie ihm doch noch weiterhelfen, auch wenn sie selbst nicht wusste, wie.
    Erst draußen dämmerte ihm, wie geschickt diese Frau war. Wie raffiniert sie ihn vom Thema abgelenkt hatte. Im kühlen Abendwind spürte er die schale Nüchternheit, die eintritt, wenn man nach dem ersten Glas Sekt nicht weitertrinkt. Er hatte sie unterschätzt. Alt, vielleicht, aber oh, là, là, noch lange nicht dumm. «Ihr Männer.» Was für ein kühner Versuch, ihn vom Detektiv zu einer Art Verehrer zu machen. Und wie naiv er darauf hereingefallen war. Dabei sah doch ein Blinder, dass bei der Geschichte mit dem Sohn etwas nicht stimmte. Alles war denkbar. Möglicherweise war der

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