Der wahre Sohn
Bett und dachte nach. Er konnte sich einreden, dass es wichtig wäre, die Person des Fahrzeuganmelders zu überprüfen. Also in die Klinik zu fahren und nach dem Sohn zu fragen. Dennoch wurde er das verdammte Gefühl nicht los, dass jetzt etwas anderes wichtig war, dass er ganz nahe an einer Sache war, die er lange vermisst hatte.
Kiew konnte das nicht sein. Ein Ortswechsel ändert bekanntlich nicht das Geringste, man kann bis ans Ende der Welt fahren und begegnet dort nur seinen alten Problemen. Dergleichen waren naive Ideen junger Menschen, Marlene und er hatten damals davon geträumt, nach Spanien zu gehen und in einer Anarchistenkommune zu leben.
Ihm war kalt, aber nicht von der Abendkühle, ihn fröstelte bei der Vorstellung, er könnte Svetlana verlieren und mit ihr die Geschichte. Könnte leichtsinnig alles verspielen, indem er sich ungeschickt anstellte, zu wenig leidenschaftlich. In Svetlana hatte er einen winzigen Anhaltspunkt an jene Zeit, die eigentlich die seine war, die ihn verloren hatte wie eine Mutter das verfrühte Kind.
Wie man aus einer Welt herausfallen kann? Wenn sich diese Welt schon durch viele, allzu viele Geschichten von einem entfernt hat. Man steigt an der falschen Haltestelle aus, merkt das schon in dem Augenblick, in dem man den Fuß auf den Bürgersteig setzt, will sich aber keine Blöße geben und schlägt in der ersten Irritation energisch eine Richtung ein, um sich vor den anderen Fahrgästen nicht zu blamieren; man tut, als hätte man es eilig, und verläuft sich. Irgendwann hält man erschöpft inne und findet sich in einer ruhigen Seitenstraße, die eigentlich nichts Bedrohliches hat, Villen, Vorgärten hinter hohen Hecken – nur ist es zu spät! Man begreift, dass man es nicht mehr schaffen wird, die eben noch so dringenden Termine sind versäumt. Man ist allein. In einer spießbürgerlichen, stillen Straße, am falschen Ort und plötzlich auch in einer falschen Zeit.
Am zuverlässigsten trennt das Leid, das man nicht mehr teilt. Er wusste wider alle Vernunft, dass er Svetlana brauchte.
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Drei
Am anderen Morgen erschrak er beim Blick auf die Uhr. Später Vormittag. Ein Sonntag. Der Straßenlärm hatte ihn nicht wie üblich geweckt.
Es war noch nicht zu spät, um zur Klinik zu fahren und sich das Gelände in Ruhe anzusehen. Er nahm die Metro zur Station Kontraktna Plošča. Der Platz machte im Sonnenlicht den Eindruck, als hätte sich seit Vorkriegszeiten nichts geändert. Glatte Straßenbahnschienen glänzten im Pflaster, eine alte, klapprige Tram quälte sich heran, musste erst einmal verschnaufen, danach verfranzte sie sich in den schmalen Gassen des engen Wohnviertels. Autos kamen ihr entgegen und machten keine Anstalten, zurückzuweichen. Ein protziger dunkler Geländewagen fuhr frech bis vor die Schnauze des Triebwagens. Der Straßenbahnfahrer, ein hagerer Mann mit senkrechten Wangenfalten, ließ die Glocken schrillen.
Als die Tram sich aus diesem Gassengewirr befreit hatte, ging es schneller, die endlos lange Frunzestraße entlang. Am Spartakstadion stieg er aus und suchte nach der Hausnummer der Klinik. Vergeblich. Erst als er nach links die Telihastraße bergauf ging, erkannte er den Haupteingang wieder. Er sah sich zunächst den Zaun, also die Grenze des Klinikgeländes, näher an. Dort nahm offensichtlich jemand eine Abkürzung durchs Gesträuch. Konrad folgte dem Pfad und stieß bald auf Fertigteile aus Beton, mit Lücken nebeneinanderstehend wie eine Mauer. Er wagte sich nicht weiter, aus Angst vor Hunden oder Wachen, kehrte um und schlitterte den Lehmhang wieder hinab. Er ging die Geländegrenze weiter und fand eine neue Lücke mit einer Treppe den Hang hinauf. Das war sicherer. Über sie kam er zu einer Kirche und alten Gebäuden, die vermutlich schon zur Klinik gehörten. Als er dort vorüberging, hörte er eine Frauenstimme. «Mann, gebt eine Zigarette! Sicharetu», rief sie rau aus einem vergitterten Zimmer im Erdgeschoss. Er sah ein helles Gesicht zwischen den Stäben und eilte erschrocken weiter. Abgezäunt durch dünne Betonplatten ragte rechts die große orthodoxe Kirche empor. An ihren grünen Kuppeln zogen weiße Wolken vorbei. Das Terrain war weitläufig, durch Grünanlagen aufgelockert, eine alte Kirchenglocke stand in einem Gehäuse. Weiter hinten fand er modernere Gebäude. Auf dem Sandweg um einige Beete ging ein junges Mädchen mit kurz geschnittenem, schwarzem Haar. Spontan wandte er sich in ihre Richtung. Sie sah ihn,
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