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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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Schwung suchte er Mazepa auf. Er fühlte sich so frisch, wie er den Anwalt selbst beim ersten Mal erlebt hatte, und bewies brennendes Interesse an seinen Nachforschungen. Saß lange in seinem Büro, trank Kaffee und redete. Er merkte, dass er ihn bald störte, es war ihm egal. Mazepa bewahrte seine leise, lächelnde Skepsis.
    «Fänden Sie es nicht sinnvoll, Solowjows Frau wenigstens einmal zu befragen?»
    «Von der lassen wir die Finger. Sie ist vorgewarnt. Ich halte es für möglich, dass sie wirklich nichts weiß. Steckt sie dagegen in der Sache drin, wird sie uns jetzt erst recht nichts sagen. Sie könnte uns höchstens auf eine falsche Fährte locken.»
    «Man könnte sie ganz dumm fragen, wie ihr Mann dazu kam, den Wagen anzumelden.»
    «Keine gute Idee. Wenn Sie unbedingt wollen, reden Sie mit ihr. Aber bitte kein Wort von mir. Das würde die Ermittlungen endgültig aufs Spiel setzen. Oder haben Sie etwa schon?» Er forschte in Konrads Gesicht.
    «Nein, nein», erwiderte der erschrocken.
    «Ich arbeite von der anderen Seite her. Nicht vom Täter, sondern vom Objekt her, vom Kraftfahrzeugmeldeamt, wie das bei Ihnen heißt. Der Wagen wurde angemeldet, also muss jemand seine Papiere dort vorgelegt haben. Selbst wenn sie gefälscht waren, gibt es Spuren.»
    «Verstehe», sagte Konrad und ging.
     
    Er trat hinaus ins Sonnenlicht, ging die Chmelnickijstraße hinunter zum Kreschtschatik und spürte nichts als Leere. Es war nicht die leichte, heitere Leere nach einer schlaflosen Nacht, wenn man taumelnd und kraftlos, aber schwindlig vor Glück aus einer fremden Wohnung kommt und ins erste Tageslicht fällt, sondern eine beklemmende Leere. Durch das glänzende Licht trug er sein dunkles, quälendes Nichts, schob es an gegen den aufgekratzten Strom der Spaziergänger wie die Bugwelle seines nichtigen Körpers. Es war ganz unerwartet über ihn hereingebrochen, und in dieser Heftigkeit hatte er das schon lange nicht mehr erlebt. Nur weil er Svetlana verloren hatte? Weil sie ihm ihren Sohn nicht geben wollte?
    Muschter hätte ihm keinen Vorwurf gemacht, wenn er Svetlana und die mit ihr verbundenen Spuren aufgegeben hätte. Er verlangte nicht von ihm, in Privatangelegenheiten herumzuschnüffeln. Das Auto sollte er zurückbringen, mehr nicht. Einen simplen Gebrauchsgegenstand, an dessen Technik sich seit Anfang des Jahrhunderts nichts Grundsätzliches geändert hatte. Immer noch ein Haufen Blech auf vier Rädern, der schlechte Luft produziert.
    Früher war seine Verachtung für die Autos noch deutlicher gewesen, an ihnen hatte er seine Wut auslassen können. Früher war sein Leben überhaupt klarer gewesen. Als er nach der Scheidung der Eltern mit dem Vater nach Berlin gezogen war, hatte er bald das Vergnügen entdeckt, im Vorübergehen die Karosserien besserer Marken zu zerkratzen. Damals war er zwölf, dreizehn. Den rostigen Nagel dafür – und rostig musste er sein – trug er in der Hosentasche. Einmal die Seitenwand entlanggeratscht, über beide Türen, laut gepfiffen oder gehustet, um das unangenehme Geräusch zu übertönen, und schnell weiter. Als Belohnung dann einen Döner. Kreuzberg war ein tolles Pflaster nach der Kleinstadt im Ruhrpott, in der er aufgewachsen war. Als er vierzehn war, wurde er einmal geschnappt und von der Polizei nach Hause gebracht. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wie sein Vater damals reagiert hatte. Böse wird er gewesen sein, sehr böse. Schließlich war er Anwalt. Obwohl der Begriff gar nicht auf ihn passen wollte, ein Anwalt ist eloquent und gewitzt, sein Vater war wenig gesprächig, stur, reagierte grob, wenn er sich angegriffen fühlte. Und das war oft der Fall. Vermutlich konnte er einfach seine Gefühle nicht zeigen. Vielleicht war es das, was seine Mutter an ihm vermisst und bei ihrem eigenen Bruder gefunden hatte.
    So war er auch gestorben. Konrad wusste wenig über ihn und sein Leben, nun war alles Nachdenken gänzlich sinnlos geworden. Sie hatten kaum miteinander gesprochen. Nur eine Sekunde lang tat es ihm leid, dass er sich jetzt in Kiew mit einer fremden Familie beschäftigte, während seine eigene mit jedem Todesfall weiter in die Vergangenheit entglitt. Hätte er die gleiche investigative Energie für seinen Vater aufgebracht, stünde er heute vielleicht anders da. Aber das war sein Job.
    Vielleicht musste er nur etwas essen, innere Leere und Hunger sind manchmal schwer zu unterscheiden. Er machte kehrt und suchte in dem Viertel zwischen Lemberger Platz und nördlich

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