Der wahre Sohn
Kollege?»
«Nein», versicherte Konrad freudig, «aber Hypochonder. Ich habe schon als Jugendlicher gern medizinische Fachbücher gelesen.»
«Wir erzielen in den letzten Jahren sehr gute Behandlungserfolge mit neueren Mitteln. Haloperidol und anderem.»
«Wie äußert sich seine Psychose?»
«Damit sind wir schon mitten in der Krankengeschichte, und die ist lang. Ich darf Ihnen das nur erzählen, weil ich von Frau Svetlana ausdrücklich ermächtigt bin. Einen rechtlichen Anspruch haben Sie nicht. Und Sie müssen mir auch mal erklären, was Sie an diesem Fall so interessiert.»
«Mach ich», nickte Konrad.
«Arkadij hat bis Mitte der achtziger Jahre ein unauffälliges Leben geführt», fuhr Dr. Prokoptschuk fort. «Jedenfalls soweit uns bekannt ist. Er war zurückhaltend, aber ausgesprochen begabt. Das Studium an einem Polytechnischen Institut hat er mit Auszeichnung abgeschlossen. Er arbeitete als Ingenieur in einem großen Stahlwalzwerk. Ungewöhnlich war allenfalls, dass er mit Mitte fünfzig immer noch bei seinen Eltern wohnte. Aber so etwas kommt ja vor. Verheiratet war er nie. Auch das ist nicht pathologisch. Dann gab es den Unfall in Tschernobyl, und wenige Wochen später zeigten sich deutliche Veränderungen in seiner Lebensweise.»
«Wie äußerten sich die?»
«Anfangs in ungewöhnlichen Stimmungsschwankungen. Seine Mutter hat berichtet, dass er nach der Explosion des Reaktors wochenlang zu Hause auf dem Bett lag, unansprechbar, nahezu regungslos. Niemand konnte ihn dazu bringen, aufzustehen und zur Arbeit zu gehen. Der Betriebsarzt kam und stellte ihn frei. Später bekam er einen amtlichen Rentenbescheid. Dann verließ er irgendwann das Haus und blieb tagelang, sogar wochenlang verschwunden.»
«Woher weiß man das?»
«Von seiner Mutter.»
«Man weiß ziemlich viel durch sie. Und wo war er denn in dieser Zeit?»
«Eines Tages wurde er aufgegriffen, als er bei einer Siedlung nördlich von Kiew irgendwelche Anlagen fotografierte. Der Ort liegt nahe an der Zone um Tschernobyl.»
«Wieso aufgegriffen? Ist Fotografieren dort verboten?»
«Damals waren andere Zeiten. Er wurde festgenommen und nach Kiew gebracht. Und damit begannen die Dinge, die ihn erst richtig auffällig machten.»
«Nämlich?»
«In der Krankengeschichte gibt es eine Zusammenfassung der polizeilichen Vernehmungsprotokolle. Je länger sie dort mit ihm sprachen, desto tiefer verstrickte er sich in Widersprüche. Er konnte gar nicht erklären, was er dort gesucht hatte.»
«Aber man muss doch auf den Fotos gesehen haben, was ihn interessierte. Schmetterlinge oder Landschaften.»
«In der Tat, hat man auch.»
«Und zwar?»
«Auf den Bildern sind die alltäglichsten Dinge zu sehen. Häuser, Zäune, Pappeln. Tiere. Käfer. Auch einzelne Gesichter, meistens von älteren Frauen.»
«Und wie hat er das erklärt?»
«Er sagte, er wolle verschiedene Schichten untersuchen. Er wollte durch die scheinbaren Dinge, durch die Oberfläche zur Wahrheit vordringen, zum Grund. Und irgendwann taucht dann in den Protokollen dieser Begriff auf – der ‹Punkt des größten Bösen›, wie er das nannte.»
«Punkt des größten Bösen?»
«Ja. Diese Formulierung ist psychologisch interessant. Aber bei den einfachen Polizisten machte er sich damit natürlich sofort verdächtig. Die kannten bestimmt den Ausdruck von Ronald Reagan, ‹das Reich des Bösen›. Damals war die Sache mit Tschernobyl, die man eigentlich unter den Tisch kehren wollte, international bekanntgeworden, und man sah es nicht gern, dass jemand dort herumschnüffelt.»
«Arkadijs Begriff steht in den Akten?»
«Ja. Beziehungsweise in der Zusammenfassung der Polizei. Manchmal sprach er auch von ‹heißen Punkten›. In den Papieren hier taucht anfangs immer wieder ein Name ohne medizinischen Titel, dafür mit militärischem Dienstgrad auf. Ein Oberst J. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, was das bedeutet.»
«Nämlich?»
«Sie kommen doch aus der DDR ?»
«Nein», Konrad schüttelte den Kopf, «ich bin aus dem Westen.»
«Aber die Stasi ist Ihnen ein Begriff? Na, es liegt doch auf der Hand. Aber dieser Verdacht auf eine staatsfeindliche Tätigkeit Arkadijs zerstreute sich Ende der achtziger Jahre. Da verschwindet Oberst J.»
«Also nach dem Zerfall der Sowjetunion?»
«Ja. Mit einem Mal war Arkadij nichts weiter als ein harmloser Verrückter. Man hat ihn sogar entlassen. Warten Sie, das war, genau, 1989 .»
Prokoptschuk machte eine Pause.
«Möchten Sie einen
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