Der wahre Sohn
überreichte ihm eine Plastiktüte.
«Verstehe», sagt Dr. Prokoptschuk und nahm die Gabe wie etwas Schmutziges entgegen. Erfreut schien er nicht. «Sie müssten noch eine Erklärung unterschreiben. Der Herr soll hier draußen auf mich warten, ich muss meine Visite beenden.»
Er hob die Hand wie zu einem Gruß. Als Konrad sich im Flur umdrehte, war Svetlana schon verschwunden.
Er setzte sich an eines der weißen Plastiktischchen im Wartesaal. Schon die Atmosphäre eines solchen Raumes machte ihn nervös. Dabei war er allein, bis irgendwann die Frau hereinschaute, die ihn an der Treppe angesprochen hatte.
«Sind Sie der einzige Patient?», fragte sie.
«Ich habe einen Termin», log er und schämte sich.
Nach einer Viertelstunde ertrug er das Warten nicht mehr und ging in den Flur. Im Dämmerlicht des langen Korridors hörte er Schritte und sah dann eine massive Gestalt, die sich langsam auf ihn zubewegte. Schritt für Schritt, auf flach aufgesetzten, nicht abgerollten Sohlen. Ein Patschen. Diese Schritte waren so gleichmäßig und dumpf, dass Konrads Herzschlag sich beschleunigte. Der schwere Mann näherte sich aus der Tiefe des Flures, die Schattenlinien wurden schärfer. Seine Bewegungen waren verlangsamt wie die eines Roboters. Der Mensch kam näher, und als er bei Konrad war und dieser etwas sagen zu müssen glaubte – trat der andere noch einmal näher heran, viel näher, als die europäische Etikette es erlaubt. Der Mann stand jetzt bei ihm und hielt sein Gesicht so nah an das seine, als wollte er Konrads Mut auf die Probe stellen oder einmal nachsehen, ob das überhaupt ein Lebewesen sei. Als bräuchte er keinerlei Rücksicht auf Grenzen zu nehmen. Er atmete durch die Nase, schwer und laut, vielleicht wegen seiner Leibesfülle, vielleicht auch aufgrund von Medikamenten. Überraschenderweise roch sein Atem nicht schlecht. Nach Nelke. Jetzt durfte Konrad nicht lächeln, aber auch nicht abweisend sein, höchstens freundlich gucken. Er hatte schon immer diesen einladend weichen Blick gehabt, der Verrückte anzieht. Jetzt galt es, diese Nähe auszuhalten, ohne sich einsaugen lassen. Der Mann sagte nichts. Er atmete.
In dem Moment sprang die Tür zum geschlossenen Bereich auf, ein Mann eilte heraus, gefolgt von Dr. Prokoptschuk. Der strahlte große Ruhe aus.
«Nikifor, Gäste behandeln wir mit Respekt», rief er dem Patienten zu.
Der massige Mann beschwichtigte mit einem Handzeichen, als wäre er ein ärztlicher Kollege.
«Vor dem brauchen Sie keine Angst zu haben», erklärte Prokoptschuk, als er die Tür seines Arbeitszimmers hinter sich geschlossen hatte. «Er hält sich für ganz wichtig. Aber er ist mit sich im Reinen, deshalb tut er keiner Fliege was. Außerdem könnten Sie ihm einfach weglaufen, er sieht Sie schon nach wenigen Metern nicht mehr. Auf seine Brille hat er sich schon so oft draufgesetzt, dass wir ihm keine neue mehr verschreiben.»
Auf dem Schreibtisch vor dem vergitterten Fenster lagen zwei dicke, vollgestopfte Hängeregistertaschen.
«Ich habe mir die Krankengeschichte von Arkadij aus dem Archiv kommen lassen. Als Svetlana mir Ihren Besuch ankündigte, musste ich mich erst einmal mit dem Fall vertraut machen.»
«Wann hat sie Ihnen denn davon gesagt?»
«Vorgestern.»
«Sie behandeln ihn noch nicht lange?»
«Seit einem Jahr.»
«Jedenfalls ist es ihr Sohn?»
«Selbstverständlich. Hatten Sie Zweifel?»
«Ich wollte mich nur vergewissern.»
«Herr Solowjow ist gewissermaßen Stammgast bei uns. Seit 1987 war er mit Unterbrechungen immer wieder in Behandlung, seit 1989 dauern seine Aufenthalte mit jedem Mal länger. Mal wurde er entlassen, einmal lief er uns einfach davon. Anfang der neunziger Jahre galt er als geheilt, und wir haben ihn längere Zeit nicht gesehen. Aber dann, 1992 oder 1993 , da müsste ich mal nachschlagen, wurde er wieder eingeliefert. Seit einem knappen Jahr will er gar nicht mehr weg. Trotzdem schließen wir sein Zimmer ab, weil er früher jede Gelegenheit genutzt hat, wieder auf Trebe zu gehen. Also auf die Suche in Richtung Tschernobyl …»
«Aber warum ist er überhaupt hier? Ich meine, was hat er?»
«Eine Psychose. Manisch-depressiv.»
«Psychose?», fragte Konrad. «Ist die Diagnose gesichert?»
Prokoptschuks Lächeln blieb, doch verschwand jedes Leben aus ihm. Diese Frage, vielleicht auch Konrads forscher Ton, missfiel ihm.
«Eine solche Diagnose lässt ja wenig Aussicht auf Hoffnung.»
«Das stimmt nicht. Sind Sie
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