Der wahre Sohn
Vorschriften entspricht, wenn ich Sie als Außenstehenden hineinsehen lasse, bei der Klinikleitung frage ich lieber nicht nach. Aber Svetlana ist der Vormund, sie hat Einblick und darf wohl auch Dritte dazu ermächtigen.»
«Vormund?»
«Ja, sie hat Arkadij entmündigen lassen.»
Prokoptschuk begleitete ihn bis zur Tür des Krankenzimmers.
«Ich werde nicht mit hineingehen. Jeder Arztbesuch wühlt ihn auf. Das tun wir so selten wie möglich.»
Es schien, als trauten sich nicht mehr viele Menschen zu Arkadij hinein. Prokoptschuk öffnete das glänzende Messingschloss, das vor nicht langer Zeit an der Tür montiert worden sein musste, mit einem Vierkantschlüssel. Als die Tür hinter Konrad zuging, blendete ihn das Gegenlicht, das durch zwei große, vergitterte Bogenfenster in den Raum fiel. Drei Betten aus dunkel lackiertem Holz standen im Raum, zwei am Fenster, eines näher an der Tür. Keine typischen Klinikbetten, wie er sie aus Deutschland kannte. Auf zweien lagen graue Wolldecken flach auf dem weißen Laken. Nur auf dem rechten am Fenster hatte die Decke einen Bezug, unter dem sich etwas bewegte, auch wenn es sich nur flach wölbte, klein und hager wirkte. Knie schoben sich nach oben und standen spitz durch die Decke. Konrad blieb an der Tür stehen.
Der Mann auf dem Bett drehte den Kopf zu ihm. Jetzt wagte Konrad sich näher. Zum ersten Mal sah er das verhärmte Gesicht von Arkadij Solowjow und war enttäuscht. Es passte nicht zu den Aussagen im Protokoll. Die Lippen lagen weich, fast selbstmitleidig zwischen den eingefallenen unrasierten Wangen, wie eine letzte Festung der selbstverliebten Kraft, die aus den Protokollen sprach. Alles andere war erschlafft, ein trauriger Rest der wahnsinnigen Phantasie, die dort zum Ausdruck kam. Das ungeschnittene blonde Haar klebte an der Stirn, ringelte sich übers Ohr. Nur der Blick der braunen Augen verriet ein ungewöhnliches Innenleben.
«Guten Tag.»
Arkadij antwortete undeutlich.
«Ich habe mit Ihrer Mutter gesprochen.»
Zu spät fiel ihm ein, was er über Arkadijs Reaktionen auf die Mutter gelesen hatte. Wie dumm. Konrad wartete ein paar Sekunden, dann fuhr er fort: «Ich soll Ihnen Grüße bestellen. Es geht ihr gut. Ich glaube, Sie könnten mir vielleicht helfen.»
Arkadij schwieg.
«Aber erst einmal: Hier, das habe ich Ihnen mitgebracht.»
Konrad reichte ihm einen der Erdnussriegel, die er am Kiosk gekauft hatte.
Arkadij nahm ihn vorsichtig entgegen.
Dann riss er schnell das Papier auf und schob sich die Schokolade in den Mund. So hastig, als wäre er kurz vorm Verhungern. Das Snickers war spottbillig gewesen, ein Drittel des Preises in Deutschland. Schön sah das nicht aus. Er stopfte mit den Fingern nach, Reste blieben an den Lippen kleben, das Karamell zog Fäden und blieb in seinen Bartstoppeln hängen. Er war seit Tagen nicht rasiert worden. Er zog dabei viel Luft ein, viele Zähne hatte er auch nicht mehr.
Konrad musste schmunzeln.
«Sie bekommen hier wohl nicht ordentlich zu essen?»
Arkadij guckte ihn mit großen Augen an und hielt beim Kauen inne. War das ein Lächeln? Die Zähne waren dunkel verfärbt.
«Verstehen Sie mich?»
Arkadij nickte, brav wie ein Kind.
«Wie geht es Ihnen hier?»
«Werden Sie mich töten?»
«Nein, um Gottes willen.»
«Sind Sie der neue Arzt?»
«Nein, nein, Arzt bin ich auch nicht. Ich will aus einem anderen Grund mit Ihnen sprechen. Wo haben Sie denn Ihr Auto gelassen?»
Mit einem Mal warf Arkadij seinen Oberkörper aus dem Bett und ließ den Kopf nach unten hängen. Er schielte unter das Gestell. Das Haar hing strähnig zu Boden. Dann kam er wieder hoch.
«Da ist es nicht.»
Konrad lächelte.
«Ja, unter dem Bett ist es nicht.»
Arkadij schüttelte den Kopf.
«Aber Ihr Vater hatte bestimmt einen Wagen, oder?»
«Einen Wolga», antwortete Arkadij.
«Keinen Mercedes?»
Arkadij zog eine Miene, schob schmollend die Lippen nach vorn, wandte den Kopf ab und blickte auf die blühenden Büsche hinaus. Tat geistesabwesend. Konrad wusste nicht, ob er verunsichert war oder Geringschätzung zeigen wollte. Ihm war nicht einmal klar, ob er die Frage überhaupt verstanden hatte. Arkadij sprach mit einem merkwürdig singenden Akzent, den er manchmal nur mit Mühe verstand. Zudem nuschelte er, und auch die Zahnlücken machten ihn nicht verständlicher. Vielleicht verwechselte er die Automarken.
Arkadij guckte, als hätte man ihn auf seinen offenen Hosenstall hingewiesen oder als schämte er sich eines
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