Der wahre Sohn
vergessenen, dabei selbstverständlichen Datums.
«Kein Wolga?» Er rieb sich mit der Hand das Kinn, wie ein Schüler beim Examen. «Ich möchte Professor Guzman sprechen.»
«Das müssen Sie wissen. Aber haben Sie nie etwas von einem Mercedes in Ihrer Familie gehört?»
Er sah Konrad verständnislos an. Dann schob er ein letztes Stückchen Erdnussriegel in den Mund, samt dem Papier, das er umständlich zwischen den Zähnen wieder herausfummeln musste.
«Einen Wolga, einen schwarzen», sagte er mit vollem Mund, als hätte er jetzt alles deutlich vor Augen. «Am Anfang war das Auto noch viel größer als Vater, viel stärker. Das Auto bestimmte selbst, wann es losfahren wollte und wie schnell es wurde. Einmal musste Vater Svetlana an der Straße stehen lassen.»
Er dachte sich das nicht aus, die Geschichte hatte ihn bei der Hand genommen, und er ging mit und schilderte alles.
«Sie sollte hinten einsteigen», fuhr Arkadij nun fließend fort, ohne alles Stocken. «Ich durfte vorn sitzen, Vater hatte das Auto neu bekommen. Es war wie ein frisch gezähmtes Tier und fuhr los, ohne sich darum zu kümmern, dass Svetlana noch gar nicht drin saß. Nach ein paar Minuten drehte Vater den Kopf und fragte: Na, was sagst du? Er wollte nämlich immer gelobt werden, immer musste er der Beste sein. Erst in diesem Augenblick merkte er, dass Svetlana nicht da war. Und Olha schrie.»
Konrad saß am Bett und nickte.
«Wir fuhren ohne sie in den Wald. Ich musste im Auto warten, und Vater ging mit Olha Pilze sammeln.»
Der Kontrast zwischen dem bisherigen Drucksen und Schweigen und diesem fast selbstzufrieden strömenden Erzählfluss hätte größer nicht sein können. Konrad erkannte die Stimme und den Rhythmus der Protokolle. Er hatte das Gefühl, dass er ihn jetzt loben sollte.
«Aha, sehr schön», sagte er, um sein Vertrauen zu gewinnen.
Nach diesem ersten Strom guckte Arkadij ihn erwartungsvoll an. Auch ein bisschen ängstlich, als rechnete er mit einem Tadel oder gar Schlägen.
«Wer ist Olha?», fragte Konrad möglichst ruhig.
Arkadij zitterte.
«Olha?»
«Sie haben eben eine Olha erwähnt. Olha, die im Auto geschrien hat.»
Arkadijs Kinn bebte. Er sah zur Zimmerdecke, als müsste er Tränen am Herauslaufen hindern, und zuckte mit den Schultern. Er konnte einem leidtun.
«Weg.»
Konrad wusste nicht weiter. Sollte er ihn trösten? Seine hagere, sehnige Hand mit ihren Altersflecken ergreifen? Was tun angesichts eines zitternden alten Mannes, der noch immer Sohn ist?
«Weg?»
«Weggeschickt!», stieß er hervor.
«Aber warum hat sie geschrien?», fragte Konrad.
«Sie hatte Angst. Ich musste im Auto bleiben. Vater nahm sie an der Hand und ging mit ihr in den Wald.»
Dann fragte er:
«Wer sind Sie?»
«Mein Name ist Konrad. Ich komme aus Deutschland.»
«Was wollen Sie denn?»
«Gar nichts. Von Ihnen gar nichts. Mich interessiert nur das Auto.»
Arkadij sah auf das Bett. Nach einer Weile wanderte so etwas wie ein Grübeln über sein Gesicht, und er schaute beinahe listig zurück.
«Ich denke darüber nach. Gehen Sie jetzt.»
«Und, haben Sie etwas aus ihm herausbekommen können?», fragte Prokoptschuk.
«Noch nicht viel.»
«Heißt das, Sie wollen wiederkommen?»
«Ja. So lange, bis der Fall gelöst ist. Wenn Sie gestatten.»
Als Konrad die Klinik verließ, ging er den offiziellen, gepflasterten Bürgersteig hinab, nicht wieder durchs Gebüsch. Die kräftigen, nass glänzenden Blätter der Brennnesseln, die sogar auf dem Gehweg wuchsen, streiften seine Beine. Im Flaum des Breitblättrigen Wegerichs standen Wassertropfen vom Mairegen. Das wirkte alles lebhaft und so vertraut wie zu Hause, am Kreuzberg, im Görlitzer Park mit den Drogenhändlern, oder noch früher, am reglos schwarzen Teich des Stadtparks im Ruhrgebiet. Von hinten näherte sich ein Auto. Auf seiner Höhe drehte Dr. Prokoptschuk die Scheibe herunter und winkte ihm einladend zu. Konrad lehnte dankend ab.
An der Telihastraße öffnete sich die enge Allee und gab den Blick frei auf den weiten, grauen Himmel, über den schnelle Wolken zogen. Da war schon wieder alles anders. Konrad bemerkte besorgt, wie jäh seine Stimmung umschlug. Die paar Blätter sollten Heimatgefühl vermitteln? Aber er war hier nicht zu Hause, schon die Autoabgase rochen anders. Wenn man zu lange auf der Straße blieb, erzeugten sie Übelkeit, das war ein anderes Benzin hier, dieses süßlich-erstickende Zweitaktergemisch. Er sah die Regentropfen auf den
Weitere Kostenlose Bücher