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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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öfter bei uns zu Hause?», fragte er.
    Der Onkel sah ihn lange an.
    «Das weißt du nicht mehr?»
    Wieder schüttelte er den Kopf.
    «Ich habe Ilse doch sehr gemocht.»
    Welche Ilse?, hätte Konrad beinahe gefragt, so ungeläufig war ihm der Vorname seiner Mutter. Doch diese Frau interessierte ihn nicht mehr. Jahrelang hatte sie ihn leiden lassen, hatte weder geschrieben noch angerufen. Jetzt wollte er wirklich nichts mehr von ihr wissen.
    «Dein Vater und Ilse haben überhaupt nicht zueinandergepasst», sagte der Onkel. «Sie war so zart und empfindsam. Rüdiger war schon ein gerissener Hund, und furchtbar grobschlächtig. Ilse und ich haben uns schon als Kinder verstanden. Wir hatten ja sonst niemand. Sie war immer der Mensch, der mich am besten kannte. Sie hatte Respekt für meine Empfindungen. Sie hat ganz vorsichtig versucht, mich auf den sogenannten rechten Weg zurückzubringen.»
    Wolfgang sah ihn an. «Weißt du, was ich meine?»
    «Und was war mit der Milch?», fuhr Konrad ihm ins Wort.
    Onkel Wolfgang lächelte nur erstaunt.
    «Ja, die Milch. Im Krieg, wenn wir Hunger hatten, haben wir uns darauf gestürzt, Haut oder nicht. Ich hatte ja gar nichts gegen die Kommunisten. Diese braven Jungs hatten ihren Marx gerade so gut verdaut, wie sie konnten. Das heißt, er war noch relativ roh. Der Sozialismus wird bis zum nächsten Frühjahr errichtet, und basta! Rasch, rasch mit dem Aufbau, bevor die Ziege des Kapitalismus kommt und die Rinde der jungen Birke abfrisst!»
    Er kicherte wie ein kleiner Junge und klopfte die Asche seiner Zigarette ab.
    «Man kann darüber lachen, aber ihre Stärke lag ja nicht in dieser Ideologie, sondern in ihrer Besessenheit. Sie waren jung und stark, und das genau ist der Punkt – ihre ganze primitive Ideologie war genau so stark wie sie selbst, aber auch nicht weniger. Genau so hungrig. Nicht Lenins von Schlaganfällen weich gewordenes Hirn hat den Kommunismus verwirklicht, sondern die verhornten Hände und nach Kuhmilch duftenden Körper dieser Bauern- und Arbeiterjungs. Wir mussten etwas dagegen tun. Die hätten sonst ganz Europa überschwemmt.»
    Er dachte einen Augenblick nach, und Konrad glaubte fast, er würde nun seine Frage beantworten.
    Stattdessen sagte Onkel Wolfgang ganz leise:
    «Es war etwas Besonderes, solche Menschen zu töten. Sie waren noch nicht bereit dazu.»
    Dann klopfte er wieder seine Asche ab. Sein graues, lautloses Interpunktionszeichen.
     
    Konrad nahm den Notizblock, öffnete eine Dose Bier und legte sich aufs Bett. Ohne das alte Blatt eines Blicks zu würdigen, machte er sich an die neue Konstellation. Der erste Name nach denen seiner Eltern, den Arkadij erwähnt hatte, und das auch noch gegenüber einem Unbekannten, war Olha. Es genügt nicht, die bestehende Aufstellung einfach zu ergänzen. Hätte er die Unbekannte einfach in die vorhandene Konstellation eingetragen, wäre sie beengt von den dort schon stehenden Personen und könnte ihre innere Kraft, also das Wichtigste, nicht entfalten. Erst beim Neuzeichnen kann sich etwas verändern, und Olha sollte die Chance des Neuanfangs bekommen. Er wusste nichts von ihr – weder ihr Alter, noch ob sie mit Arkadij verwandt war und ob sie überhaupt noch lebte. Als er fertig war, stellte er mit Interesse fest, dass Olha sich unterhalb der Eltern Svetlana und Jurij befand, so wie Arkadij selbst. Als stammten sie beide von ihnen ab. Wie Geschwister.
    Er ließ das Blatt auf seine Brust sinken. Die Augen fielen ihm fast zu. Alles nur wegen eines Autos, dachte er noch. Was ist nur an so einem Ding, dass es den Menschen schwachmachen kann? Und zugleich vervielfacht, verhundertfacht die ineinandergreifende Mechanik die menschliche Kraft, nur durch einen Tipp der Zehenspitze aufs Gaspedal. Man dreht den Zündschlüssel um, das Anlasserritzel schlägt auf das noch unwillige, kalte Metall der Riemenscheibe, dann noch einmal und noch einmal, bis dem Motor Hören und Sehen vergeht, bis er sich am Ende hingibt und anspringt … Da war Konrad schon eingeschlafen.
     
    Am nächsten Vormittag fuhr er zu Svetlana. Klein und schwarz stand Arkadijs Mutter in dem ohnehin dunklen Flur und bat ihn in die Küche.
    «Wie geht es ihm denn?»
    Sie hob ein Taschentuch ans Auge. Tränen sah Konrad nicht.
    «Also», sagte er betont fröhlich, «Ihr Sohn macht einen ganz patenten Eindruck auf mich. Ich glaube, er ist gar nicht wirklich verrückt. Er hat nur diese unbändige Phantasie. Manchmal scheint er seinen Gesprächspartner einfach

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