Der wahre Sohn
Warum entlässt man ihn nicht einfach?!»
«Das wollte ich gerade sagen. Seine Mutter will ihn nicht zurückhaben.»
Prokoptschuk schloss einen schmalen Raum hinter seinem Kabinett auf. Nur ein Tisch darin, vor dem Fenster zum Innenhof, dazu ein Stuhl und an der Wand ein Waschbecken. Fast wie eine Gefängniszelle. Er legte die zwei schweren, verschnürten Akten auf den Tisch.
Konrad schlug die erste auf und fand darin in engem Zeilenabstand mit der Maschine beschriebene Seiten. Sie waren nur geheftet und ließen sich leicht herausnehmen. Er blätterte und begann aufs Geratewohl zu lesen.
Zweite Einweisung, 1988 . Auch eine interessante Jahreszahl.
«Der Käfer humpelte und stolperte vorwärts wie unsere greisen Funktionäre, der alte Breschnew zum Beispiel, der immer eine Spur weißen Schaums im Mundwinkel hatte. Das kam von den Tabletten gegen Sodbrennen oder sonst etwas, von all diesem Zeug, das er in sich hineinschüttete. Unmengen von Medikamenten.»
So also klang Svetlanas Sohn? Schon nach diesen wenigen Sätzen meinte Konrad eine lebendige Stimme zu hören, einen ganz eigenen Rhythmus, einen Ton wie Glockenläuten. Dabei hatte er diesen Menschen nie zuvor gesehen, geschweige denn sprechen hören.
Zwischenfrage des Arztes: «Woher wissen Sie das?»
«Was?»
«Dass Leonid Breschnew Tabletten einnahm?»
«Das weiß doch jeder. Ich meine, das sieht man. Im Fernsehen. Ist Ihnen nicht aufgefallen, dass er sich oft von zwei Helfern stützen ließ, damit er bei Staatsempfängen nicht schwankte? Aber dann wurde ich auf einen Schlag sehr traurig. Nicht wegen Breschnew. Obwohl ich den gemocht habe. Sondern weil mir klarwurde, dass ich diesem Käfer großes Unrecht tat, wenn ich ihn mit einem kranken alten Mann verglich. Das Insekt konnte ja nichts dafür. Es war auch ein sehr schönes, ja prächtiges Exemplar. Wissen Sie, Herr Professor, wie ein Carabus ullrichi aussieht? Er gehört zur Familie der Laufkäfer und hat einen glatten Halsschild sowie schwarzgrün glänzende, wie von Steppnähten durchzogene Rillen auf den Flügeldecken. Dieses Tier hier schien seinen eigenen Stolz zu haben. Ob es nun durch die Strahlung geschädigt war oder durch eine andere Krankheit, der Käfer machte den Eindruck, als schämte er sich, als wollte er seine Behinderung hinter den langsamen Bewegungen verbergen, das Gesicht wahren und möglichst rasch aus meinem Blickfeld verschwinden. Er tat mir unendlich leid.»
«Haben Sie öfter Mitleid mit Tieren?»
«Einmal habe ich einen großen Marabu gesehen, der mit erhobenem Kopf daherstolzierte. Er wollte die Fasson wahren, dabei fielen ihm schon die Federn vom Fleisch.»
«War das im Zoo?»
«Ich weiß nicht mehr.»
«Und dann?»
«Ich empfand großen Respekt vor diesem Wesen der Schöpfung und traute ihm die gleiche Scham zu wie einem kranken Menschen. Ich wurde mir der Verantwortung für all die geringeren Wesen bewusst, die neben uns herleben und doch quasi unsere Vorfahren sind, Vorstufen der menschlichen Entwicklung. Wir sind so gemein, sie Tiere zu nennen, dabei sind wir es selbst, nur in einer älteren Form.»
«Die Tiere sind wir selbst?»
«In gewissem Sinne. Wir, in einer früheren Zeit.»
Konrad klappte den Deckel zu und ging zu Prokoptschuk ins Arztzimmer.
«Sagen Sie: Das scheinen ja wörtliche Mitschriften zu sein. War es üblich, dass man die Befragungen so genau festhielt?»
«Nein. In Arkadijs Fall hat man sich aus wissenschaftlichem Interesse dazu entschlossen. Das sind Transkriptionen vom Tonband, alles wurde aufgenommen. Sie können davon ausgehen, dass es eine ziemlich genaue Wiedergabe des Wortlauts ist.»
«Wissen Sie, wer die Aufnahmen gemacht und wer das aufgeschrieben hat?»
«Nein, keine Ahnung. Steht da vielleicht irgendwo drin.»
Konrad zog sich wieder in den Raum zurück und blätterte weiter.
«Ich wollte mich ihr zärtlich nähern, es war doch meine, meine …»
«Meine was?», fragt der Arzt.
«Ich liebte sie und hatte doch Angst, dieses Hinterteil könnte sich über mir aufbäumen und mir seinen Stachel in den Leib bohren.»
Arkadij hält inne, dann: «Die Frau als solche ist gepanzert, geben Sie mir recht?»
Patient scheint auf Bestätigung zu warten, wirkt plötzlich unsicher und gestikuliert.
«Man sieht es ihr nur nicht an. Sie wirken so zart und duftig. Sie spazieren in ihrem Körper in der Welt umher, als wären sie nicht von, eben, nicht von dieser Welt. Sie scheinen so rein zu sein. Man kann sich zum Beispiel gar nicht
Weitere Kostenlose Bücher