Der wahre Sohn
vorstellen, dass sie auch einmal müssen. Aber wenn man sich Kopf und Unterleib genau ansieht, erkennt man, dass es sich um zwei völlig unabhängige Teile handelt. Man sieht es deutlich, wenn eine Frau sitzt. Jeder denkt, die beiden Teile seien verbunden, aber die Taille trügt.»
Patient wirft einen erschrockenen Blick auf die Schwester an seinem Bett, als würde ihm jetzt erst bewusst, dass es sich auch bei ihr um eine Frau handelt. Sein Kopf ist auf Höhe ihrer Hüfte. Auch die Unterzeichnete, Dr. Medwedjewa, die am Tisch sitzt, bekommt einen solchen Blick. Arkadij lächelt ihr mitfühlend zu und fährt fort.
«So vieles ist Schein bei der Frau. Irgendwann kippen sie um und zerbrechen. Dann merkt man, wie hart und unbeweglich sie schon lange Zeit gewesen sein müssen, sie können einem leidtun. Sie fallen auf den Rücken und können nur noch mit den Beinen zappeln, wie ein Käfer.»
«Wie viele Beine hat nach Ihrer Ansicht eine Frau?»
Arkadij zuckt mitleidig mit den Schultern.
«Sie gehen kaputt. Es ist eine Kunst, diesen Panzer zu durchbrechen. Aber das musste ich, um sie zu lieben. Der Bruch war nur an dem Punkt möglich, an dem sie am giftigsten war.»
«Welche Frau wollten Sie lieben?»
Keine Antwort.
«Würden Sie sagen, dass auch Ihre Mutter gepanzert ist?»
«Meine Mutter», Arkadij stockt. «Meine Mutter.»
«Ja, Ihre Mutter. Svetlana Wiktorowna.»
Patient verstummt mit einem ausatmenden ‹Pf› und zieht eine verachtungsvolle Miene, die fast ans Komische grenzt. Anschließend verweigert er jedes weitere Gespräch.
Konrad ließ den roten Pappdeckel auf den Tisch sinken und blickte aus dem Fenster. In dem Hof zwischen den Gebäudeflügeln, die sich zur Straßenseite öffneten, trieben Fliederbüsche erste Blüten. An der gegenüberliegenden Fassade mit ihren vergitterten Fenstern bröckelte der Putz in großen Flächen ab.
Sein Geist schweifte ab. Als hätte er sich nach langer Enthaltsamkeit eine Schachtel Gitanes ohne Filter gekauft. Erst wenige Schritte hatte er in die Geschichte dieser Familie hineingetan, um nach bewährter Methode dem Auto nachzuforschen, aber worauf er hier stieß, das erregte ihn so sehr, als hätte er die schwarze Karosserie des Mercedes schon greifbar vor sich. Nein, das war mehr Erregung als Karosserie. Das Auto war lebendig geworden. Seine scharfen Umrisse, eben noch deprimierend eindeutig, waren aufgebrochen, unter dem Metalliclack korrodierte etwas, aber das war kein Blech, eher organische Materie, und sie bekam Risse, wurde weich und zerfloss, die Karosserie nahm ganz unglaubliche Farben und Dimensionen an, sie trieb nicht nur Sicken und Spoiler, besonders viele Sicken, weil niemand weiß, was das ist, sondern überhaupt überraschende, phantastische autofremde und autoübersteigende Formen, es stülpte sich aus ihr heraus, schnürte sich zu metallischen Taillen, wie um aller Welt zu sagen: Schaut her, dies bin ich in Wirklichkeit, für dich bin ich schön, alles vorher war nur Verpackung und falsche Gestalt, und dieses Kunstwerk aus immer neuen Ausstülpungen bauschte sich auf, spreizte Hutzen und Federn wie ein Pfau, wollte schön sein, aber nicht wie eine Frau, die sich selbst vor dem Spiegel erniedrigt, Schnuten zieht und Lippen anmalt, sondern größer, göttlicher, selbstbewusster, und vor allen Dingen schnell. Wie eine Blüte im Zeitraffer. Die ganze Karosserie verwandelte sich. Da war nicht mehr die glatte Unnahbarkeit des Blechs, die ihn als Jungen provoziert hatte, sie zu zerkratzen, nein, das war längst ein anderer Stoff, fast schon lebendig, vielfältiger auf jeden Fall, tiefer, poröser, dichter. Mehr wie ein Fell oder Haut. Das Auto wuchs zu gewaltiger Größe heran und erhob sich, wuchs über sich selbst hinaus. Da stand er wie ein kleiner Junge und staunte zu ihm hoch.
Konrad bekam eine unerklärliche Lust auf dieses Etwas, das nur noch lose mit seinem Namen verbunden war und aus diesem herauskroch wie aus einer harten Schale, einer alten Haut.
«Das sind ja phantastische Geschichten», sagte Konrad zu Prokoptschuk, noch etwas zittrig nach dieser Erscheinung und bemüht, sich nicht zu verraten. Prokoptschuk sollte nicht auf die Idee kommen, selbst ausführlicher nachzulesen. Der sollte sich hier mit seinen normalen Verrückten abgeben.
«Ich werde mir einige Zeit für die Lektüre nehmen müssen.»
«Tun Sie das», sagte der Psychiater ahnungslos. «Mitgeben kann ich Ihnen die Akten leider nicht. Ich glaube ohnehin nicht, dass es den
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