Der wahre Sohn
Kaffee?», fragte er dann.
«Gern.»
«Darf ich fragen, was Sie an dem Fall interessiert?»
«Ich bin mit der Aufklärung eines ungewöhnlichen Fahrzeugdiebstahls beauftragt. Und ich will ausschließen, dass Arkadij Solowjow etwas damit zu tun hat.»
Prokoptschuk legte den Kopf schief und kniff ein Auge zu.
«Wann soll der Diebstahl denn begangen worden sein? Das hätte ja während seiner kurzen Zeiten in Freiheit sein müssen.»
«Nein, das Auto wurde in Deutschland entwendet und nach Kiew gebracht.»
«Dann soll er die Straftat von hier gesteuert oder in Auftrag gegeben haben?»
«Keine Ahnung. Das will ich ja herausfinden. Und eben deshalb muss ich mehr über ihn wissen. Das ist meine Methode, sie hat sich bewährt.» Es machte Konrad jedes Mal nervös, wenn er seine Vorgehensweise erklären musste. «Kleine, unscheinbare Veränderungen der Persönlichkeit zeitigen manchmal Folgen, die schwer wiegen. Eine Art Hebelwirkung, verstehen Sie?»
«Nicht ganz, aber egal. Arkadij kam nach anderthalb Jahren wieder, diesmal mit akuten Angstvorstellungen. Er glaubte, Insekten zu sehen, die zu Frauen wurden. Oder umgekehrt, warten Sie. Das steht hier alles drin. Ich bin noch nicht dazu gekommen, die Protokolle in Ruhe zu studieren. Es ist viel Papier. Ich habe eine Menge zu tun, wir haben immer mehr Patienten. Viele eingebildete Napoleons.»
«Wirklich?», lachte Konrad.
Prokoptschuk blätterte.
«Nach den ersten Gesprächen bei der zweiten Aufnahme, als er merkte, dass man ihn eine Weile hierbehalten wollte, schwieg er hartnäckig. Er sagte kein Wort mehr. Es gelang dann mit Hilfe bestimmter Mittel, ihn zum Reden zu bringen. Dieser Aktendeckel hier, das sind seitenweise Protokolle, mitgeschrieben von einer Assistenzärztin in den ersten Jahren, 1987 , 1988 .»
«Also hat er doch ein bisschen geredet?»
«Das Vertrauen des Patienten zu gewinnen, ist die hohe Kunst der Psychiatrie. Auf diesem Vertrauen beruht der Heilungsprozess. Aber ich gebe zu, damals hat man ein wenig nachgeholfen. Sie werden zu Beginn jedes Protokolls wiederkehrende Kürzel entdecken, sie bezeichnen die Dosierung von Koffeinbarbamilnatrium. Ein leichtes Narkosemittel, das zur Einleitung größerer Anästhesien benutzt wird. In höherer Dosierung macht es euphorisch und löst die Zunge. Einen Patienten, der eben noch misstrauisch und aggressiv war, überkommt das Gefühl, alle Anwesenden seien ihm wohlgesinnt und er dürfe über alles sprechen, was ihm auf dem Herzen liegt. Arkadij hat gern fabuliert. Er muss ein bezaubernder Erzähler sein. Oft kam sogar ein anderer Arzt in das Behandlungszimmer und wollte diese halbe Stunde zuhören. Umringt von Schwestern und Ärzten lag er auf dem Bett und dozierte. Das Interesse schmeichelte ihm. Wenn es ihm besserging, saß er auf dem Stuhl. Er genoss die Sitzungen, bis heute macht er einen narzisstischen Eindruck.»
«Benutzt man dieses Mittel noch?»
«Selten. Manchmal testet man damit Entlassungskandidaten, um auszuschließen, dass sie sich an Angehörigen rächen wollen, zum Beispiel.»
«Hat er das Medikament freiwillig eingenommen?»
«Sehen Sie», das kam sehr von oben, und Konrad ließ es sich gefallen, froh, überhaupt so tief in die Sache eingeweiht zu werden, «schon bei einem psychisch Gesunden ist schwer zu sagen, was er freiwillig tut und was nicht. Ich möchte ja auch nicht wissen, was Sie in Wahrheit an diesem Fall anzieht. Nehmen Sie es mir nicht übel, aber die Sache mit dem Auto überzeugt mich nicht. Wer weiß, womöglich sind Sie von Gründen getrieben, die Ihnen selbst nicht klar sind. Bei einem seelisch Gestörten lässt sich das umso schwerer sagen.»
«Schizophrenie schließen Sie aus?»
«Selbstverständlich. Eine Schizophrenie hat andere, eindeutige Symptome, die bei ihm nicht vorliegen.»
«Aber wie kann es sein, dass jemand, der so lange normal war, auf einmal in der geschlossenen Abteilung festgehalten wird?»
«Wissen Sie, es gibt unterschiedliche Krankheitsverläufe. Exogene und endogene Psychosen. Arkadij ist manisch-depressiv, inzwischen chronisch. Es ist auch nicht auszuschließen, dass die Medikamente ihn auf Dauer verändert haben. Bis in die achtziger Jahre wurden die Psychopharmaka der älteren Generation noch relativ unbedenklich und in hoher Dosierung eingesetzt. Je länger jemand unter der Wirkung solcher Mittel lebt, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass diese Mittel ihn tatsächlich verändern. Außerdem …»
«Aber er scheint doch harmlos.
Weitere Kostenlose Bücher