Der wahre Sohn
Scheiben des Trolleybusses, der wie ein Requisit aus einem alten Film ins Bild rutschte, dann sah er die kleinen Menschen über die stählerne Fußgängerbrücke auf die andere Straßenseite eilen, und ihn erfasste ein plötzliches Verwundern über sich selbst. Er fühlte sich sehr allein und verstand in dem Augenblick nicht mehr, was er in dieser fremden Stadt verloren hatte. Fast eine Art Ekel überkam ihn, weil er schon so tief in diese Geschichte eingedrungen war, ohne eine Ahnung, was da noch auf ihn zukam, und die ihm nicht nur aus nationalen Gründen fremd war … Das Wort schien ihm unangebracht und viel zu groß. Aber wie sollte er es sonst nennen, es war doch ein anderes Land; und fremd obendrein, zweifellos handelte es sich um einen pathologischen Fall. Er konnte sich doch nicht einreden, dass dieser Kranke etwas mit ihm zu tun hätte. Das Auto steckte fest in dieser wenig normalen, angsteinflößenden Familie. Muschter hatte recht gehabt. Der ganze Diebstahl hatte etwas Verrücktes. Konrad fiel nicht einmal auf Anhieb ein, wie viele Tage er nun schon in Kiew war.
Als ganz junger Mann hätte er nun vielleicht seine Sachen gepackt und wäre zurückgefahren zu den Menschen, die er verstand, hätte in Berlin seine Wunden geleckt und nach einigen Tagen Marlene angerufen. Auch wenn er ihr selbst nicht mehr traute, ihr Körper war tröstlich genug. Schon wäre alles wie früher gewesen. Jetzt spürte er, dass dieser kalte Hauch von Fremdheit ihn nicht mehr umwerfen konnte. Er wusste tief im Innern, auch wenn dieses Innere Einbildung war und tatsächlich ziemlich weit draußen lag, dass er sich auf dem richtigen Weg befand und ihn zu Ende gehen musste. Jetzt, seit er Arkadij kannte.
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Vier
Konrad fuhr zur Metrostation Petrivka. Die Rolltreppe brauchte lange, um ihn in den Untergrund der Stadt zu befördern. Passagiere rauschten ihm entgegen, die aus- oder umstiegen, eine faszinierende Masse von Gesichtern, ein endloses, wanderndes Mosaikband. Er versuchte, die verschwimmende Vielfalt zu zerlegen, fasste einzelne Gesichter ins Auge und ließ sie nicht mehr los, folgte ihnen mit dem Blick. Manche sahen zurück, andere waren in Gespräche vertieft, bemerkten ihn nicht oder schauten weg. Unten im Tunnel stieg er in die einrollende Bahn. Die Klimaanlage im Waggon blies ihm kalte Luft gegen den Hals. Er fand zum Kreschtschatik, in sein Hotel.
Die Frau an der Rezeption winkte ihn heran.
«Ein Herr Mazepa hat nach Ihnen gefragt. Nichts Wichtiges.»
Er atmete auf. Da war das Auto wieder. Realer geht es nicht, Herr Prokoptschuk. Wie gut, dass es noch klare Köpfe gibt wie Jurko Mazepa, die männlich geradeaus blicken und sich nicht verwirren lassen. Es ist also kein Wahn und keine Halluzination. Deshalb bin ich hier, wegen des Mercedes. Damit trat das, was ihn eben noch beunruhigt hatte, schlagartig in den Hintergrund. Die Wirklichkeit leuchtete auf wie eine frisch gewaschene Karosserie, wenn die Sonne durch die Wolken bricht. So eine Karosserie kann schön sein, hat glatte, harte Kurven und keine weichen Stellen, wo man mit dem Finger einbricht. Es gibt nur eine solche Wirklichkeit, und es verlangt Kraft, sie zu zerkratzen. Sie glänzt vor Härte. Man lacht über die Leute, die am Wochenende ihr Auto putzen, aber sie wissen, was sie tun. Sie kämpfen gegen die unklaren Stellen in ihrem Leben an. Wenn sie ihr Frühstücksei aufgeklopft haben und den Blick von Glibberweiß und Spitalsgelb heben, soll ihnen draußen ein Vorbild von Sauberkeit und Berechenbarkeit entgegenleuchten. Ein Bild von Rationalität, einer Rationalität, die von übermenschlicher Kraft getragen ist.
Onkel Wolfgang aß seine Eier hart gekocht. «Das Mädchen», wie er seine bestimmt sechzigjährige Haushälterin nannte, sorgte dafür, dass sie nie zu weich blieben.
«Erinnerst du dich an den Geruch von frischer, warmer Kuhmilch?», hatte Onkel Wolfgang ihn gefragt, als sie in der Küche des Einfamilienhauses an der Altvaterstraße saßen. Er klopfte mit dem Löffel die Schale auf, es fing wie immer ganz harmlos an. Deshalb konnte man sich schlecht wehren, man konnte nicht sagen ‹fang jetzt nicht wieder damit an›, denn man wusste ja nicht, wie es weitergehen würde.
«Das gab’s ja früher noch, bevor die Gentechnik alles kaputtgemacht hat. Heute ist alles künstlich. Weißt du noch, wie du dich immer geekelt hast, wenn Ilse dir warme Milch gab? Vor der Haut?»
Konrad schüttelte den Kopf.
«Warst du denn
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