Der wahre Sohn
geradeaus. Er überquerte einen weiten, leeren Platz. Hinter hohen Eisenzäunen standen die imposanten Türme der Sophien-Kathedrale im Scheinwerferlicht. Sein Verfolger musste sich ein gutes Stück zurückfallen lassen, um weiter unbemerkt zu bleiben. Bald darauf spürte Konrad in den Beinen, dass es bergauf ging. Die Straße wurde schmaler. Am Horizont schimmerte schon bläuliches Licht, die kleinen Gassen dagegen verdüsterten sich. Er hatte den Eindruck, den Weg zu einer Burg hinaufzusteigen. Schließlich gelangte er in ein dunkles Viertel. Wie dumm von ihm, den Verfolger ausgerechnet in diese Gegend zu locken. Hier gab es weder Hilfe noch Fluchtwege. Die Gasse war eingeklemmt zwischen einem hohen, leerstehenden Fabrikgebäude zur Rechten und einem überwucherten Wall zur Linken. Aus den schwarzen Fensterhöhlen der Fabrik hallte eine Stimme, als brülle sich dort der Nachtwächter oder ein einsamer Betrunkener ins Delirium. Dem Brüllen antwortete, ebenso verzweifelt, das Bellen eines Hundes. Alle Stimmen hallten, als wäre das Gebäude völlig entkernt. Jetzt bin ich am Ende, dachte Konrad. Am Ende der Welt. Konnte diese Gasse noch in Kiew sein? Konrad fürchtete, er hätte in seinem panischen Treiben eine unsichtbare Grenze überschritten und wäre ganz woanders, bei dieser Vorstellung packte ihn eine Angst, die auch die Unbekümmertheit des Wodkas durchschlug, und er fiel in einen leichten Trab. Da wollte er doch einmal sehen, ob sein Verfolger bei dem Tempo mithalten konnte.
Keuchend vor Anstrengung und Aufregung erreichte er einen hell erleuchteten Platz. Einige Frühaufsteher huschten in die Waggons der Straßenbahn, es war die Haltestelle, von der aus er in die Klinik fuhr. Als er ins Hotel kam, war es schon Tag.
Er verriegelte die Zimmertür, ging ins Bad und ließ Wasser in die Wanne laufen. Er war wütend auf sich selbst. Für diese Art Ermittlungen war er eben nicht geeignet. Zu schüchtern, wie Svetlana sagte. Zu nachgiebig. Jeder sah ihm sofort an, dass er mit seiner Cordhose und dem alten Jackett nicht in so einen Nachtclub passte. Er war ein guter Beobachter, konnte stundenlang an einem Ort verharren und warten, anschließend seine Zeichnungen machen. Zu mehr taugte er nicht.
Er zog sich aus, warf die Kleider auf den Kachelboden und stieg in das heiße Wasser. Die Badewanne war kurz, aber tief, er konnte mit dem ganzen Körper eintauchen und nur die Spitzen der Knie herausschauen lassen. Durch die halbgeöffneten Lamellen der Jalousie beobachtete er, wie die Fensterscheibe beschlug. Er tauchte unter, drückte den Hinterkopf an den Wannenboden, hielt sich die Nase zu und ließ Luft aus dem Mund blubbern.
Da hörte er durch das Blubbern und das Wasser hindurch ein Klacken, als wäre ein Stück Seife vom Wannenrand gerutscht und auf die Kacheln gefallen, etwas Hartes jedenfalls. Vielleicht war er mit dem Ellbogen gegen die Wanne gestoßen? Er hatte aber nichts gespürt, oder war er noch zu betrunken? Er tauchte auf und horchte. Ganz still saß er im Wasser, strengte seine Sinne an, um das leiseste Geräusch zu erfassen. Er beugte sich über den Rand – auf dem Boden lag nichts. Ließ den Blick durch das Bad schweifen und konnte nichts entdecken. Womöglich war jemand ins Zimmer gekommen. Der Mann, der ihn verfolgt hatte. Er war nun ganz auf sein Gehör angewiesen. Regungslos blieb er im Wasser liegen, um sich nicht zu verraten.
Wenn jemand es auf ihn abgesehen hätte, auf sein Leben, dann wäre der Besucher längst im Bad und hätte seinen Kopf unter Wasser gedrückt. Wahrscheinlich suchte er etwas. Jemand durchwühlte seine Papiere. Jetzt bereute Konrad, dass er seine Aufzeichnungen immer offen auf dem Tisch liegen ließ. Vielleicht hatte der Mann, der jetzt im Wohnzimmer war, Konrads Platschen gehört und war nun ebenso erstarrt wie er selbst. Vielleicht stand er an der Tür zum Bad. Oder saß seelenruhig im Sessel und versuchte, die Aufzeichnungen zu verstehen. Vielleicht wartete er auch, dass Konrad aus dem Bad käme. Oder er war längst weg.
Die Zeit verstrich, das Wasser wurde langsam kalt. Obwohl nichts mehr zu hören war, musste er weiter ausharren, um sich nicht zu verraten. Ausdauer war eine seiner Stärken. Erst als er fror und zu zittern begann und begriff, dass die Kälte eine handfestere Bedrohung war als eine eventuelle Gefahr im Zimmer, stand er bibbernd auf, griff sich ein Handtuch und stürzte nackt und entschlossen aus dem Bad. Was sollte ihm jetzt noch passieren, wenn er
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