Der wahre Sohn
sagte Arkadij und sah ihn aufmerksam an. «Ist Ihnen schlecht?»
Konrad schüttelte den Kopf, verließ das Krankenzimmer, ging an der Patiententoilette vorbei und klopfte bei Prokoptschuk.
«Svetlanas Mann ist doch vor kurzem gestorben, oder nicht?»
«Keine Ahnung.»
«Keine Ahnung? Ich war sogar an seinem Grab. Und sein Sohn weiß davon nichts? Hat ihm niemand etwas gesagt?»
Prokoptschuk verzog das Gesicht.
«Dann werde ich es ihm sagen», sagte Konrad.
«Warten Sie. Er hat seinen Vater sehr geliebt. Das will gut vorbereitet sein.»
«Deswegen ja.»
«Ich würde gern selbst mit ihm sprechen. Im Augenblick kann ich nicht.» Zum Beweis hob er wie üblich einen Stapel Papiere an und ließ sie über seinen Daumen schwirren.
«Also, wo waren wir stehengeblieben?», fragte Konrad, als er zurück im Krankenzimmer war.
«Bei meinem Vater. Dann mussten Sie plötzlich raus.»
Konrad staunte über seine Auffassungsgabe, der keine Kleinigkeit entging.
«Richtig. Ich frage Svetlana, ob er noch in dieser Klinik ist.»
Arkadij nickte. Die leichte Verwunderung war nicht aus seinem Blick verschwunden.
Bei Svetlana öffnete niemand. Zum ersten Mal musste Konrad vor ihrer Haustür warten. Als sie mit ihren Einkaufsnetzen zurück war und die Haustür aufgeschlossen hatte, beschwerte er sich schon auf der Treppe: «Svetlana, ich verstehe das nicht! Arkadij weiß nichts vom Tod seines Vaters! Wie können Sie ihm das verheimlichen?»
«Still!», fauchte Svetlana. «Die Nachbarn müssen nicht alles erfahren.»
Erst im Wohnungsflur fragte sie: «Haben Sie es ihm gesagt?»
«Es wäre mir fast rausgerutscht. Ich wusste ja nicht, dass Sie es ihm verheimlichen. Sie behandeln ihn nicht wie einen Menschen.»
«Er ist ja auch entmündigt.»
«Sie haben ihn entmündigen lassen?», fragte Konrad empört, als wüsste er es nicht längst.
«Was denken Sie? Er ist nicht in der Lage, eigene Entscheidungen zu treffen. Er kann kein selbständiges Leben führen. Sonst hätte ich Ihnen auch gar nicht die Vollmacht für die Krankengeschichte geben können.»
Konrad musste sich setzen.
«Aber gerade weil er seinen Vater so geliebt hat, hätte er ein Recht auf die Wahrheit.»
«Ich wollte noch warten. In seinem Zustand würde ihn das überfordern. Schon der Besuch bei Jurij im Krankenhaus hat einen schweren Rückfall verursacht.»
«Die Beerdigung ist jetzt mehr als drei Monate her. Wie lange wollten Sie denn noch warten? Er hätte ein Recht gehabt, sich von seinem Vater zu verabschieden.»
«Er konnte nicht aus der Klinik raus.»
«Sie haben es ja nicht einmal versucht.»
Sie verstummte. Ging zur Spüle. Genau wie seine Mutter immer in die Küche entschwunden war, sobald es Streit gab. Bald darauf hörte er sie vor sich hin pfeifen und leise summen.
Lili Marleen. «Vor der Kaserne, vor dem alten Tor» oder ein anderes Lied aus den letzten Kriegsjahren.
Svetlana setzte Teewasser auf und kam wieder an den Küchentisch. Konrads Empörung legte sich, er bekam allmählich ein Gespür für diese Familie. Svetlana war nicht mehr seine einzige Bezugsperson. Er kannte Arkadij und empfand sogar so etwas wie Verantwortung für ihn. Er konnte nicht mehr einfach weglaufen wie noch vor ein paar Tagen.
«Hatten Sie Angst, dass er am Grab jemandem begegnet, den er nicht sehen sollte?», fragte Konrad.
«Unsinn.»
«War es wenigstens eine schöne Beerdigung?»
«Würdevoll», sagte Svetlana, als wäre das Thema damit für sie abgeschlossen. «Bescheidener Rahmen, kleiner Kreis. Sie kennen ja den Friedhof.»
«Hatte er viele Freunde?»
«Ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Ich zähle Ihnen jetzt bestimmt keine Namen auf. Das sind Leute, die Sie nicht kennen. Keiner von ihnen hat etwas mit dem Auto zu tun.»
«Vielleicht doch. Warum berichten Sie mir nicht von den Trauergästen?»
«Die kennen Sie alle nicht.» Svetlana wand sich. «Zwei oder drei Kriegsveteranen. Ein Vertreter vom Rayonskomitee der Partei.»
«Aber vielleicht stellt sich heraus, dass jemand dabei war, der uns weiterhilft. Bei solchen Anlässen macht man manchmal überraschende Bekanntschaften», sagte Konrad. «Irgendjemand, an den Sie im Augenblick gar nicht denken.»
Svetlana schwieg.
«So habe ich übrigens meinen Onkel kennengelernt», fiel Konrad ihr gut gelaunt ins Grübeln. «Den Bruder meiner Mutter.»
«Den kannten Sie vorher nicht?»
Sicher war sie froh, von der Beisetzung ihres Mannes wegzukommen.
«Nein, stellen Sie sich vor. Auf der Beerdigung
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