Der wahre Sohn
sich ohnehin gleich eine Lungenentzündung holen würde? Er hustete laut, um nebenan niemanden zu überraschen. Das Zimmer war leer. Die Bettdecke war glatt gestrichen, das Bett schon mittags frisch gemacht worden. Auf dem aufgeklopften Kopfkissen lag eine Schokoladenpraline vom Красный Октябрь , «Roter Oktober», die das Zimmermädchen ihm jeden Tag hinlegte.
Zitternd nahm er eine kleine Flasche Wodka aus der Minibar, rollte sich in die dünne Bettdecke und ließ einen langen Schluck in seine Kehle laufen. Das war eine neue Situation. Angst wollte er es noch nicht nennen. Aber so weit war es inzwischen gekommen.
Wer, wer war der Grund dafür?
Er durfte sich nichts einreden lassen. Erschossene Sowjetoffiziere, das hatte mit seinem Fall nichts zu tun, das war eine andere Welt. Möglicherweise hatte Mazepa mit dem Sadismus dieses kleinen Oligarchen bewusst übertrieben, um ihn von eigenen Nachforschungen abzuhalten.
Längst war er nicht mehr der Beobachter von außen, der für einige Tage hier abgestiegen war, um ein Auto zu finden und dann rasch wieder in sein altes Leben zurückzukehren. Vielleicht war es das, was diesen Fall von allen bisherigen unterschied – die Tatsache, dass er nicht mehr ohne weiteres und unverändert zurückkonnte. Nach allem, was er über seine Mutter erfahren hatte, konnte er ohnehin weder einfach zurück nach Berlin noch in seine alte Vorstellung von dem, was sein Leben gewesen sein sollte. Was Ilse getan hatte, machte sie zu einer Fremden für ihn. Der Einsatz in Kiew zögerte diese Erkenntnis nur hinaus. Seit dem Gespräch mit seinem Onkel nannte er seine Mutter beim Vornamen. Um sie so von sich fernzuhalten. Statt der Wahrheit auf den Grund zu gehen, geriet er selbst in ihren Sog.
Der Alkohol verschaffte ihm das angenehme Gefühl von Wärme, dennoch spürte er eine Art Fühllosigkeit von den Zehen bis zu den Knöcheln hochsteigen und in die Unterschenkel wandern. Erst kurz vor dem Wegdämmern wich diese Taubheit einer Wärmewelle in die entgegengesetzte Richtung.
Irgendwann hörte er die Tür aufgehen. Das konnte nur das Zimmermädchen sein. Er zog sich die Decke über den Kopf und schlief weiter.
«Was ist denn mit Ihnen?», lachte Svetlana am Nachmittag, als sie ihm die Tür öffnete. «Haben Sie im Dnjepr gebadet?»
«Eingeschlafen, in der Badewanne», sagte Konrad.
«Sie haben doch nicht getrunken? Das wäre ja was Neues. Ich würde Sie gern mal betrunken sehen, sie sind immer so verkrampft. Kommen Sie, ich mache Ihnen einen heißen Tee mit Rum. Das hilft gegen den Kater.»
Er musste niesen. «Sagen Sie mir bitte, wo die Toilette ist?»
«Die nächste Tür», sagte Svetlana.
Konrad ging am Wohnzimmer vorbei nach links und blieb vor einer Tür stehen, durch deren Milchglasscheibe Licht fiel. Keine Sekunde später trat Svetlana in den Flur.
«Nein, nein, das ist das Kinderzimmer. Die Toilette ist rechts.»
«Kinderzimmer? Das Zimmer Ihres Sohnes?», fragte Konrad.
«Ja, ja. Es ist verschlossen. Ich war schon ewig nicht mehr darin. Seit damals, als die Beamten hier waren und sich alles noch einmal angesehen haben.»
«So lange ist das Zimmer schon verschlossen? Das glaube ich nicht.»
«Sie haben gesagt, ich soll alles unangetastet lassen, falls später noch Fragen auftauchen.»
«Aber das ist doch über ein Jahr her. Man hat vermutlich einfach vergessen, Ihnen Bescheid zu geben.»
«Keine Ahnung.»
«Und was ist das hier für ein Sprung durch die ganze Tür?»
«Ist kaputt.»
«Kaputt? Eine Tür geht doch nicht einfach so kaputt. Hat man einen Schrank durch den Flur getragen? Da muss jemand dagegengetreten sein. Vielleicht Ihr Mann, in einem Wutanfall?»
«Spielen Sie nicht den Detektiv. Nicht in meiner Wohnung, bitte.»
«War Ihr Mann gewalttätig?»
«Unsinn.»
«Hat Arkadij sich verbarrikadiert, als die Leute kamen?»
«Quatsch.»
«Haben Sie den Schlüssel noch?»
«Irgendwo. Ich habe ihn immer gut versteckt, damit Arkadij sich nicht einschließen konnte. Ich hatte oft Angst, er könnte sich etwas antun.»
«Sie haben nicht ein einziges Mal wieder hineingeschaut? Nicht mal zum Staubwischen? Fürchten Sie nicht, dass in Ihrer Abwesenheit etwas darin gewachsen sein könnte?»
Sie erschrak. «Gewachsen? Was meinen Sie damit? Wie Sie sich immer ausdrücken. Da wächst doch nicht einfach was.»
«Wenn man Dinge einfach wegschließt, kann etwas wachsen.»
«Wachsen, wachsen. Gewachsen ist etwas bei meinem Mann, in seiner Lunge, etwas,
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