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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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könnte sie heute noch beißen. Ich bekam Herzklopfen, und wenn sie auf den Dielen trampelte oder, noch schlimmer, gegen den Tisch stieß, wackelte der Projektor auf dem Bücherstapel. Das Bild an der Wand verrutschte, und ich dachte, jetzt habe ich es entdeckt! Ich wurde euphorisch, und wenn sie dann wieder draußen war und ich alles zurechtrückte, kam die Enttäuschung.»
    «Dr. Prokoptschuk sagte, Sie hätten nach dem Punkt des größten Bösen gesucht.»
    Arkadij schmunzelte. «Ach. Das haben Sie sich gemerkt?»
    Er wurde nachdenklich. Geschwächt von den paar Schritten durch den Park wies er auf die nächste Bank.
    «Ja, das habe ich gesagt», fuhr er nach einer kurzen Verschnaufpause fort. «Aber das ist aus der Anfangszeit, der naiven Phase. Kurz nach Tschernobyl. Ich besorgte mir Karten von den Napoleonischen Kriegen, vom Zweiten Weltkrieg, Pläne über die Verteilung der Radioaktivität. Die habe ich übereinandergelegt. Jetzt fällt es mir wieder ein, mein Gott, wie leicht man vergisst. Damals suchte ich nach Übereinstimmungen. Ich wollte aus dem schmutzigen Brei der Karten etwas Deutliches und Klares gewinnen. Wenn ich das Bild auf der Wand um winzige Millimeter verschob, ergab sich manchmal ein Zeichen. Ich erkannte, dass an einem sogenannten Hot Spot mit starker Plutonium-Verseuchung manchmal auch ein Scharmützel irgendeiner Nachhut Napoleons oder ein Sondergruppeneinsatz der Deutschen stattgefunden hatte. Ich glaubte damals, je mehr Böses sich an einem Ort ansammelt, desto wahrscheinlicher ist es, dass Olha in der Nähe ist.»
    «Warum das ausgerechnet?»
    «Weil sie nie dorthin zurückwollte, sie wollte bei mir bleiben. Sie wollte nicht dort leben, wo ihre Eltern verhungert waren. Svetlana hat sie weggeschickt. Aber irgendwann ahnte ich, dass sie mich auf den Arm nahmen.»
    «Wer tat das?»
    «Die Kartenmacher. Ich hatte den Verdacht, sie legen gefälschte Karten aus wie Köder. Ich dachte wirklich, sie kleben falsche Karten in die Enzyklopädien. Ich hab ja manchmal eine herausgerissen, in den Bibliotheken. Immer wenn alles zu gut übereinstimmte, wurde ich traurig. Sie spielen mit dir, dachte ich. Wenn sich alles deckte und übereinstimmte, gab es keinen Erkenntnisgewinn. Wissen Sie, warum der Jagdhund im Zickzack läuft, wenn er eine Spur aufgenommen hat? Weil sein Geruchssinn erlahmt, wenn er keine Abweichung mehr wahrnimmt. Die Hundenase ist auf Veränderung angewiesen. Als ich begriffen hatte, dass ich gegen die Kartenfälscher nicht ankomme, gab ich auf. Ich blieb im Bett liegen, ich hatte das Gefühl, zwischen mir und der Welt steht etwas.»
    «Was?»
    «Eine durchsichtige Mauer.»
    Der Vergleich berührte Konrad aus irgendeinem Grund.
    «Ich weiß nicht, wie lange ich so im Bett gelegen habe. Ich verlor jedes Zeitgefühl. Irgendwann – aber wann war das?
– wurde es mir klar: Das wollen sie doch nur, dachte ich. Deshalb haben sie dir die Karten untergeschoben. Wenn du das alles mit dir geschehen lässt, dann wird dein Leben überwuchert, du erstickst in Übereinstimmungen. Du mühst dich damit ab und stellst am Ende immer nur fest, dass alles zusammenpasst, ein Ort auf den anderen. Dass alles sich ähnelt. Das ist das Schlimmste. Die Gleichheit ist der Tod. Und wer bleibt am Ende auf der Strecke?»
    Konrad drehte den Kopf zu ihm.
    «Du selbst», triumphierte Arkadij. «Ich habe zum Beispiel irgendwann nicht mehr gewusst, was ich all die Jahre über getan habe. Nach dem Krieg, meine ich.»
    Ach.
    «Als ich das begriffen hatte, wollte ich wieder raus. Ich hatte einen schalen Geschmack auf der Zunge, wie nach einem langen Fieber. Ich war nur noch Haut und Knochen. Ich stand auf, bemühte mich, einen normalen Eindruck zu machen – ich weiß ja inzwischen, was sie hier für normal halten –, ich musste nur ganz viel mit Professor Guzman reden, dann wurde ich entlassen. Zu Hause fing ich meine Untersuchungen wieder von vorne an, diesmal mit einer anderen Strategie. Jetzt suchte ich nach Unterschieden, nicht mehr nach Übereinstimmungen. Es war mühsam, und die meisten Karten hatten sie mir weggenommen.»
    «Wer?»
    «Ich weiß es nicht. Svetlana oder die Miliz. Ich wusste, dass ich eine Richtung brauche. Das war sonnenklar, erst wenn auf einer Karte ein Ort eingezeichnet ist, der auf der anderen fehlt, entsteht eine Richtung. Osmose. Eine Sogwirkung. Verstehen Sie?»
    «Theoretisch schon. Ich weiß nur nicht, ob es … Ich meine, wie ich das auf die Wirklichkeit übertragen soll.»
    «Sie

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