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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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drücken sich immer so gequält aus. Ich würde Ihnen gern helfen.»
    «Wobei?»
    «Klarer zu sehen. Passen Sie auf. Olha lebt in einem Dorf im Norden von Kiew, das auf keiner Karte mehr eingezeichnet ist.»
    «Woher wollen Sie das so genau wissen?»
    «Ich
will
es nicht wissen», rief Arkadij laut. «Ich
weiß
es. Sie hat doch immer davon gesprochen.»
    Jetzt sah Konrad das Mädchen mit den kurzen Haaren. Es war bei seinem Gang um die Grünanlage stehen geblieben und blickte aus einiger Entfernung zu ihnen her. Im ersten Moment drehte Konrad sein Gesicht weg, um sie nicht wieder zu erschrecken. Aber sie kam langsam näher, und als sie an ihrer Bank vorbeiging, sah sie ihn sogar direkt an. Ihre Züge waren entspannter, das Gesicht weicher. Sie lächelte nicht, sie schaute nur aufmerksam. Arkadij war mit einem kleinen Zweig beschäftigt, den er von der Hecke neben der Bank abgerissen hatte. Nachdem sie weg war, sagte Konrad:
    «Aber, darf ich Sie einmal etwas fragen?»
    «Ja, bitte.»
    «Diese Olha ist nun aus Ihrem Leben verschwunden, seit Sie sechzehn waren, richtig?»
    Arkadij nickte ungeduldig, als ahnte er schon, worauf das hinauslief.
    «Fast ein halbes Jahrhundert. Es ist ja schön, dass Sie solche Erinnerungen haben, an ein Mädchen, das … Mir will nur nicht in den Kopf, warum Sie immer noch an diese eine Frau denken, diese einzige Frau! Hat es danach keine andere in Ihrem Leben gegeben? Entschuldigen Sie, ich will nicht indiskret sein, mich geht das ja nichts an. Mich interessiert nur der Grund für diese Ausschließlichkeit. Rein theoretisch, gewissermaßen. Hat Ihnen nie eine andere Frau gefallen? Waren Sie nie wieder verliebt?»
    «Sie wollen sagen, ich bin verrückt?»
    «Nein», beschwichtigte Konrad, «aber das ist ungewöhnlich. Oder einmalig. Im Grunde ja wunderbar, so eine große Liebe wünscht sich jeder.»
    «Habe ich was von Liebe gesagt?»
    Schneidend scharf. Er sagte das so laut, dass das Mädchen sich umdrehte. Doch, hast du, dachte Konrad und erinnerte sich, dass dieses Wort mehrmals in den Protokollen vorgekommen war.
    «Manchmal machen Sie mir Angst. Wenn Sie so simpel denken, verstehen Sie womöglich auch andere Dinge zu wörtlich. Rauben Sie mir jetzt nicht die letzten Illusionen. Ich zerbreche mir hier seit Wochen den Kopf darüber, was Sie in Wirklichkeit meinen, und dann stellt sich heraus, Sie meinen alles wörtlich.»
    «Nein. Vielleicht nur klarer.»
    «Sie brauchen sich nicht zu rechtfertigen», sagte Arkadij. «Ich wollte Ihnen kein Unrecht tun, ich glaube an Sie. Bei mir ist da einfach eine Lücke. Oder wie immer Sie das nennen wollen.»
    «Eine leere Stelle», erklärte er leiser und sah ihm forschend ins Gesicht.
    Konrad schwieg.
    «Jahre. Jahrzehnte. Ohne Erinnerung. Die will ich schließen.»
    «Sie wollen diese Lücke rückwirkend schließen?»
    Arkadij sah ihn wieder misstrauisch an. «Ich will herausfinden, wo sie die ganze Zeit war. Ich will anknüpfen an damals. Die leere Zeit danach überwinden.»
    «Also doch wieder Olha.»
    «Olha ist ein Symbol, so wie Ihr Auto.»
    «Mein Auto …», Konrad brach ab. Es hatte keinen Zweck.
    «Ja?», fragte Arkadij sehr sanft. «Wollen Sie mir nicht endlich sagen, was mit Ihrem Auto ist?»
    Fast verlegen schüttelte Konrad den Kopf.
     
    «Ihr Sohn hat mir erklärt, was er mit diesen Landkarten bezweckt», verkündete Konrad bei Svetlana freudig und verschwieg alles, was ihn an diesem Gespräch irritiert und bedrückt hatte.
    «Sie waren also doch wieder bei ihm?», rief sie.
    «Natürlich. Er sucht ganz einfach nach Olha.»
    «O mein Gott!»
    «Und er kann das sehr gut erklären. Das ist eine ganz rationale Angelegenheit. Nichts Verrücktes.»
    «Ganz rational, dass man so lange in der Vergangenheit herumwühlt? Da lässt sich doch nichts ändern. Warum kann er sich nicht endlich damit abfinden? Was will er denn noch? Er ist so schwach. Haben Sie mal seine Beine gesehen? Er hat nie Sport getrieben. Ich kochte und kochte, und er hat fast nichts gegessen. Sein Ende war beinahe schon abzusehen.»
    Das sagt eine Sechsundachtzigjährige.
    «Ich flickte ihm manchmal einen Pullover, weil ich hoffte, irgendwann könnte sich eine Frau für ihn interessieren.»
    «Aber Arkadij ist …»
    «Bedenken Sie, er war damals schon Mitte fünfzig. Ein Mann in fortgeschrittenem Alter, mit strähnigem, grauem Haar, hager und krumm, immer nur an seinem Schreibtisch, über all den Landkarten und diesen furchtbaren Geräten, die aussahen wie

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