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Der wahrhaftige Volkskontrolleur - Roman

Der wahrhaftige Volkskontrolleur - Roman

Titel: Der wahrhaftige Volkskontrolleur - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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nickte einem kleinen Jungen zu, der eine Frage stellen wollte.
    „Genosse Kandidat, erzählen Sie von Ihrer Kindheit!“, bat der Junge.
    Siljin hörte auf, auf seinen Lippen herumzubeißen, führte seine rechte Hand zum Gesicht und berührte mit dem Finger nachdenklich das Muttermal auf seiner Wange.
    „Nun, eine Kindheit, wie ihr sie habt, hatte ich natürlich nicht“, begann der Deputiertenkandidat zu erzählen. „Ich wurde im Dorf Panino im Moskauer Gouvernement geboren. Heute ist das der Bezirk Moschajskij. In einer Bauernfamilie. Mein Vater war ein Ofensetzer, und auch mir brachte man dieses Handwerk bei. Er starb früh, ich war damals fünfzehn Jahre alt. Solange er lebte, war ich mit ihm und mit dem Bruder meiner Mutter in der Umgebung von Moskau unterwegs, um auf den Datschen Öfen zu setzen. Als er dann starb, war es mit der Arbeit vorbei. Da war es gut, dass einer meiner Verwandten mich im Ingenieursbüro Gillert unterbrachte, das sich damals auf der Basmannaja-Straße befand. Ich wurde dort Ofensetzer-Lehrling. Als Lohn erhielt ich achtzehn Rubel im Monat ohne Verpflegung … Das war also meine Kindheit …“
    „Erzählen Sie uns doch bitte, wie die Ofensetz-Arbeiter im alten räuberischen System gelebt haben!“, bat ein stupsnäsiges Mädchen aus der ersten Reihe.
    „Na, wie haben wir gelebt?“, fragte sich der Deputiertenkandidat selbst. „Morgens trank ich heißes Wasser ohne Tee und aß eine Semmel dazu, zum Mittagessen gab es anderthalb Pfund Weißbrot, ausschließlich altbackenes – es war billiger und hielt außerdem länger. Am Abend, wenn man den Rücken nicht mehr gerade halten konnte vor lauter Müdigkeit, ging man in eine schmutzige Garküche und holte sich eine dünne Kohlsuppe und Brei. Die Arbeiterration sozusagen. Nur an Sonntagen erlaubte ich mir eine Art Luxus … Nein, kein Fleisch! … Ein Pfund frisches Weißbrot aus Grießmehl. Schließlich war ich noch ein Junge, und ach, wie sehr sehnte ich mich nach etwas Feinem, das gut schmeckte. Was soll man noch sagen, es war ein schreckliches Leben. An den Sonntagen zwang uns der Vorarbeiter, in die Kirche zu gehen, und am Abend mussten wir laut aus der Zeitschrift ‚Das russische Wort‘ vorlesen. Manchmal ging er mit Freunden in ein Teehaus, bestellte dort Tee – fünf Kopeken für zwei Tassen – und spielte Karten, sein Lieblingsspiel ‚Kosjol‘. Dabei war es noch gut, dass der Vorarbeiter nicht trank und auch mich zur Nüchternheit erzog. Die anderen tranken alle – ja, wie soll man auch nicht trinken bei so einem Leben!“
    Zwei alte Lehrerinnen hatten sich leise in den Raum gezwängt, standen unauffällig an der Wand und lauschten Siljins Erzählung.
    Wieder hob sich eine Kinderhand – dieses Mal in der dritten Reihe rechts neben dem Fenster.
    „Bitte, bitte!“, ermunterte der Deputiertenkandidat einen Pionier, dessen Gesicht er nicht sehen konnte, so klein war dieser.
    Der Junge stand auf und geriet ein wenig in Verwirrung, als sich alle nach ihm umdrehten.
    „Sprich nur ruhig!“, lächelte ihm Siljin freundlich zu.
    „Äh … waren Sie an der Front?“, fragte der kleine Pionier schließlich.
    „Natürlich“, nickte Grigorij Markelowitsch. „Auch im Ersten Weltkrieg, aber länger bei der Roten Armee. Und ich kann euch sagen, die Rote Armee, das ist eine ganze Universität. Wir haben häufig auf ehemaligen Gutshöfen Halt gemacht. Zuallererst wurde die Bibliothek gesucht. Während des Bürgerkrieges schaffte ich es, fast alle Klassiker zu lesen. Und immer führte ich zwei oder drei noch nicht gelesene Bücher im Munitionswagen mit …“
    Drei weitere Lehrer betraten leise den Raum: ein alter Geograf und zwei zwanzigjährige Sportler. Sie baten die beiden alten Damen, etwas nachzurücken, und nahmen ihren Platz an der Wand ein.
    „Erzählen Sie von der Fabrik!“, bat jemand, der gar nicht aufgezeigt hatte.
    Aber der Deputiertenkandidat schenkte dem Verstoß gegen die Pioniersetikette keine weitere Beachtung.
    „Von der Fabrik?“, wiederholte er und fing gleich an zu erzählen. „Die Fabrik ‚Hammer und Sichel‘ hieß früher Guschon-Fabrik … Ich kam 1921 dorthin, nach der Demobilisierung. Sie erinnerte damals an einen Friedhof – so still und verlassen war alles. Das war das typische Bild einer Fabrik der damaligen Zeit: Die Ausstattung verrostete und ging kaputt, gearbeitet wurde nur in den Betriebswerkstätten. Das war die Zeit der ‚Feuerzeuge‘, wie man damals sagte. Die Arbeiter stellten

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