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Der Wald der Könige

Der Wald der Könige

Titel: Der Wald der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Waden, sodass seine nackten Knöchel zu sehen waren. An den Füßen trug er Sandalen mit Lederriemen. Seine nicht allzu saubere Weste bestand aus rot-weiß-gestreiftem Tuch. Auf dem Kopf trug er einen selbst genähten Lederhut.
    Alan Seagulls fröhliches Gesicht ging vom Mund direkt in den Hals über. Der spärliche schwarze Bart reichte hinunter bis zum Adamsapfel, ohne dabei den Umweg über ein Kinn zu nehmen.
    Es roch nach Teer, Fisch und Meerwasser. Wie so oft summte er eine Melodie vor sich hin. An seiner Seite marschierte der kleine Jonathan Totton, der den Seemann vergötterte. Gerade hatten sie das Rathaus an der abschüssigen kleinen Straße erreicht, als ihn eine ruhige, aber befehlsgewohnte Stimme zu sich rief: »Jonathan, komm her.«
    Bedauernd ließ Jonathan den Seemann stehen und ging zu dem hohen Holzhaus hinüber, wo ihn sein Vater erwartete.
    Kurz darauf fand er sich, von einer kräftigen Hand hineingeschoben, im Inneren des Hauses wieder und lauschte den gemessenen Worten seines Vaters. »Mir wäre es lieber, wenn du nicht so viel Zeit mit diesem Mann verbringst.«
    »Warum, Vater?«
    »Weil es in Lymington gewiss bessere Gesellschaft für dich gibt.«
    Nun, dachte Jonathan, das könnte schwierig werden.
     
     
    Zuweilen machte Henry Totton sich Sorgen um seinen Sohn. »Ich weiß nicht, ob er wirklich versteht, was ich ihm sage«, beklagte er sich einmal bei einem Freund.
    »Bei einem zehnjährigen Jungen ist das nichts Ungewöhnliches«, beruhigte ihn dieser. Doch Totton gab sich damit nicht zufrieden. Und als er nun seinen Sohn betrachtete, empfand er Ungewissheit und Enttäuschung, die er sich jedoch nicht anmerken ließ.
    Henry Totton war ein knapp mittelgroßer, zurückhaltender Mann. Er trug ein langes houppelande – einen vom Kragen bis zu den Knöcheln durchgeknöpften, langärmeligen lockeren Mantel ohne Gürtel, der aus bestem braunem Tuch bestand. Für besondere Gelegenheiten besaß er einen zweiten aus Samt mit einer seidenen Schärpe. Er war glatt rasiert, und sein milder Blick aus grauen Augen konnte nicht verbergen, dass ihm am Vorwärtskommen seiner Familie gelegen war. Seit Jahrhunderten trieben die Tottons in Southampton und Christchurch Handel, und er wollte unter allen Umständen verhindern, dass der Zweig der Familie, der in Lymington lebte, hinter seine Vettern zurückfiel.
    Er gab sich redlich Mühe, Jonathan nicht zu sehr einzuschüchtern, denn es wäre dem Jungen gegenüber ungerecht gewesen. Außerdem liebte er ihn von ganzem Herzen. Seit dem Tod seiner Frau vor einem Jahr war der kleine Jonathan alles, was er hatte.
    Wenn Jonathan seinen Vater ansah, wusste er, dass dieser enttäuscht von ihm war, obwohl er sich keinen Grund dafür denken konnte. An manchen Tagen strengte er sich an, ihm eine Freude zu machen, doch an anderen vergaß er es einfach. Wenn sein Vater nur begriffen hätte, warum ihm so viel an den Seagulls lag.
    Im Jahr nach dem Tod seiner Mutter hatte er sich angewöhnt, allein zum Hafen hinunterzulaufen. Unten an der High Street, wo die alten Landparzellen endeten, führte ein steiler Abhang zum Wasser. Das Gebiet am Fuße des Hügels wurde nicht nur geographisch als tiefer liegend betrachtet. Da an dieser Stelle die Stadtgrenze verlief, endeten für Leute wie die Tottons hier auch Anstand und gute Sitten. Denn an dem Hügel drängten sich die schmuddeligen Hütten der Fischer. »Und das übrige Treibgut, das es vom Meer oder aus dem New Forest hierher verschlagen hat«, wie Jonathans Vater zu sagen pflegte.
    Für Jonathan hingegen war es ein kleines Paradies: die klinkergebauten Schiffe mit ihren schweren Segeln, die umgedrehten Boote auf dem Kai, die Schreie der Möwen, der Geruch nach Teer, Salz und getrocknetem Seetang, die Reusen und Netze. Er liebte es, dort umherzustreifen. Die Hütte der Seagulls, wenn man sie denn so bezeichnen wollte, stand dicht am Ufer. Eigentlich handelte es sich weniger um ein Gebäude, als um eine Ansammlung von Gegenständen, von denen einer faszinierender war als der andere und die sich hier in einem wilden Haufen türmten. Das Sammelsurium sah aus, als wäre es durch Zauberhand entstanden, denn man konnte sich nur schwer vorstellen, dass Alan Seagull so viel Mühe auf etwas verwendete, das nicht schwimmen konnte.
    Dabei hätte sich die Hütte der Seagulls wahrscheinlich sogar über Wasser gehalten. Auf der einen Seite bildeten die Überreste eines alten Segelbootes mit nach außen gewendeten Seiten eine Art Laube, in der

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