Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Wald der Könige

Der Wald der Könige

Titel: Der Wald der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
Vom Netzwerk:
hätte er sie angefasst, doch er zögerte, denn er hatte das Gefühl, dass sie nicht allein war.
    »Bruder Adam.« Ihre Stimme. Sie klang ruhig und sanft. »Ich habe dir jemanden mitgebracht.«
    »Oh. Wen denn?«
    »Mein jüngstes Kind. Es ist ein kleiner Junge.«
    »Ich verstehe.«
    »Gibst du ihm deinen Segen?«
    »Meinen Segen?« Er war überrascht. Eigentlich war das keine ungewöhnliche Bitte an einen Mönch, doch angesichts dessen, was sie über ihn wusste… »Wenn du meinst, dass ihm mein Segen weiterhilft«, sagte er. »Wie alt ist denn das Kind?«
    »Fünf.«
    »Ah, ein schönes Alter.« Er lächelte. »Und wie heißt er?«
    »Ich habe ihn Adam genannt.«
    »Oh, so wie ich.«
    Er spürte, wie sie näher kam, sodass sie einander fast berührten, und dann flüsterte sie ihm etwas ins Ohr. »Er ist dein Sohn.«
    »Mein Sohn?« Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitzschlag, sodass er fast ins Taumeln geraten wäre. Ihm war, als hätte er in der Dunkelheit, die ihn umfing, einen goldenen Lichtstrahl gesehen.
    »Er weiß es nicht.«
    »Du… « Seine Stimme klang gepresst. »Bist du sicher?«
    »Ja, Bruder.« Sie wich zurück.
    Kurz stand er reglos im Sonnenlicht und fühlte sich, als sei alles um ihn herum ins Schwanken geraten. »Komm, kleiner Adam«, sagte er leise. Und als der kleine Junge sich näherte, betastete er mit den Händen seinen Kopf und sein Gesicht. Wie gerne hätte er ihn hochgehoben und ihn an sich gedrückt, doch das durfte er nicht. »So, Adam«, meinte er sanft. »Sei ein guter Junge, gehorche deiner Mutter und lass dich von einem Namensvetter segnen.« Er legte die Hand auf den Kopf des Jungen und sprach ein kurzes Gebet.
    Er wollte dem Jungen etwas geben und überlegte, was er ihm schenken könnte. Da fiel ihm das Kruzifix aus Zedernholz ein, das er vor so langer Zeit von seiner Mutter erhalten hatte. Mit einem Ruck zerriss er den Lederriemen, an dem es um seinen Hals hing, und reichte es dem Jungen. »Das habe ich von meiner Mutter, Adam«, sagte er. »Es heißt, ein Kreuzritter habe es aus dem Heiligen Land mitgebracht. Behalt es immer bei dir.« Dann wandte er sich mit einem Achselzucken an Mary. »Mehr habe ich nicht.«
    Die Frau und ihr Sohn entfernten sich, und kurz darauf kehrten Adam und Luke zur Abtei zurück.
    Eine Weile sprachen sie kein Wort. Erst als sie die Hälfte des Weges durch den Wald zurückgelegt hatten, fragte Adam: »Sieht der Junge mir ähnlich?«
    »Ja.«
     
     
    In seinen langen Jahren der Blindheit wirkte Bruder Adam besonders friedlich und würdevoll, wenn er an einem sonnigen Nachmittag meditierend in einer Nische des windgeschützten Kreuzganges saß. Den jüngeren Mönchen schien es, als sei er in diesen Momenten nah bei Gott und spräche mit ihm. Es wäre ihnen ungehörig erschienen, ihn dabei zu stören. Und zuweilen traf ihre Vermutung auch zu. Manchmal aber, wenn ihm der Geruch der Wiese und der Gänseblümchen in die Nase stieg und wenn er die warme Sonne spürte, die über dem frater aufging, beschäftigte ihn etwas anderes, und dieser Gedanke erfüllte ihn stets mit großer Freude. Auch wenn er sich damit versündigte, war er dagegen machtlos.
    Ich habe einen Sohn. Guter Gott, ich habe einen Sohn.
    Eines Nachmittags, als er allein und unbeobachtet war, nahm er sogar das kleine Messer heraus, das er zuvor am Tag benutzt hatte. Vorsichtig ritzte er ein kleines A neben sich in den Stein.
    A für Adam. Und selbst wenn er bestraft werden und aus dem Paradies hinaus in die Dunkelheit gejagt werden sollte, würde er es, seinem Sohn zuliebe, wieder tun.
    Und so lebte Bruder Adam noch viele Jahre lang in der Abtei Beaulieu und bewahrte sein Geheimnis.



LYMINGTON
     
     
     
    1480
     
    Es war ein warmer Aprilmorgen, und der frische Fisch duftete köstlich. Kaufmannsgattinnen in Gewändern mit bauschigen Ärmeln drängten sich auf dem Fischmarkt von Lymington. Bei Tagesanbruch war eine große Ladung an der kleinen Mole an Land gebracht worden. Es gab Aale und Austern von der Flussmündung; Seehecht, Kabeljau und andere Weißfische aus dem Meer und auch Goldfische, wie man damals den Goldbarsch nannte.
    Der Gutsverwalter hatte gerade seine Glocke geläutet, um das Ende des Fischmarkts anzukündigen, als vom Pier her zwei Gestalten erschienen.
    Alle kannten den mageren Mann, der da an diesem warmen Aprilmorgen durch die Straßen schritt. Schon sein Gang verriet, dass er sich nicht um die Meinung seiner Mitbürger scherte. Eine weite Leinenhose umflatterte seine

Weitere Kostenlose Bücher