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Der Wald der Könige

Der Wald der Könige

Titel: Der Wald der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Seagulls Frau häufig saß und eines ihrer kleinen Kinder stillte. Das Dach bestand aus verschiedenen Planken und Latten, immer wieder unterbrochen von Flicken aus Segeltuch. Hie und da erinnerten Ausbuchtungen an ein Ruder, einen Schiffskiel oder an eine alte Truhe. Aus einem Gegenstand, der einem alten Hummertopf ähnelte, quoll Rauch. Dach und Außenwände waren zum Großteil schwarz von Teer. Draußen, neben der Hütte, lag ein Boot. Fischernetze und verschiedene Schwimmer waren zum Trocknen aufgehängt. Dahinter befand sich ein großes, von Schilf bewachsenes Gelände, das manchmal fischig stank. Für einen kleinen Jungen war es eine Welt voller Abenteuer.
    Den Besitzer dieser Bretterbude am Meer konnte man jedoch keinesfalls einen armen Mann nennen. Alan Seagull besaß ein Schiff, einen klinkergebauten Einmaster, größer als ein Fischerboot, mit ausreichendem Frachtraum, sodass er kleinere Lasten nicht nur durch die Küstengewässer, sondern selbst bis hinüber nach Frankreich schaffen konnte. Sein Schiff war zwar nicht sonderlich ansehnlich, aber ausgezeichnet in Schuss, und seine Mannschaft gehorchte ihm aufs Wort. Es ging das Gerücht, dass Alan Seagull irgendwo ein wenig Geld versteckt hatte. Obwohl er lange nicht so wohlhabend war wie die Tottons, fiel auf, dass er alles, was er brauchte, auch bezahlen konnte. Seine Familie hatte immer genug zu essen.
    Der kleine Jonathan hielt sich oft bei den Seagulls auf und beobachtete die sieben oder acht Kinder, die ständig um das Haus wimmelten wie Fische um eine Unterwasserhöhle. Der liebevolle Umgang zwischen ihnen und ihrer Mutter vermittelte ihm eine familiäre Vertrautheit und Wärme, die ihm zu Hause fehlten. Als er eines Tages allein an der Hütte vorbeischlenderte, folgte ihm eines der Kinder, ein Junge, etwa in seinem Alter. »Hast du Lust, mit mir zu spielen?«, fragte er.
    Willie Seagull war ein komischer Knirps. Mager, aber ziemlich kräftig und zu jedem Streich bereit. Jonathan musste wie die anderen Söhne wohlhabender Kaufleute eine kleine Schule besuchen, denn Totton und sein Freund Burrard hatten einen Schulmeister eingestellt. Doch nach dem Unterricht tollten er und Willie zusammen herum und erlebten immer wieder neue Abenteuer. Manchmal spielten sie im Wald oder gingen an einen Bach zum Angeln. Willie zeigte ihm, wie man Forellen fischte. Hin und wieder liefen sie auch zum Strand hinunter.
    »Kannst du schwimmen?«, erkundigte sich Willie.
    »Ich weiß nicht so recht«, erwiderte Jonathan und stellte bald fest, dass sein neuer Freund schwimmen konnte wie ein Fisch.
    »Keine Angst, ich bringe es dir bei«, versprach Willie.
    Eigentlich konnte Jonathan schneller rennen als Willie, doch der kleine Junge schlug Haken, sodass er ihn nie erwischte. Willie nahm ihn auch mit zu den Kindern der anderen Fischer am Kai, worauf Jonathan sehr stolz war.
    Und als sie eines Nachmittags am Wasser Alan Seagull begegneten, meinte Willie zu dieser sagenhaften Gestalt: »Das ist mein Freund Jonathan.« Der kleine Jonathan Totton schwebte im siebten Himmel. »Willie Seagull sagt, dass ich sein Freund bin«, verkündete er an diesem Abend stolz seinem Vater. Aber der schwieg nur eisig.
    Manchmal begleitete Willie seinen Vater auf dessen Schiff und blieb einen oder zwei Tage lang fort, worum Jonathan ihn glühend beneidete. Er wusste genau, es wäre sinnlos, wenn er fragen würde, ob er mitfahren dürfe.
    »Komm, Jonathan«, forderte sein Vater ihn eines Tages auf. »Ich möchte dir etwas zeigen.«
    Sie standen im Kontor, einem kleinen Raum mit einem massiven Holztisch in der Mitte und verschiedenen Schränken und Truhen aus Eichenholz an den Wänden. Der besondere Stolz des Kaufmanns war das große Stundenglas, das es ihm ermöglichte, die genaue Uhrzeit abzulesen. Jonathan sah die verschiedenen Gegenstände auf dem Tisch seines Vaters und erkannte mit einem Seufzer, dass heute wieder eine Unterrichtsstunde an der Reihe war.
    In Henry Tottons wohl geordneter Welt bestand alles aus Formen und Zahlen, also aus Dingen, die man verstehen konnte. Oft faltete er für Jonathan geometrische Körper aus Pergament oder Papier. »Schau«, pflegte er dann zu sagen, »wenn du es umdrehst, sieht es ganz anders aus.« Er verwandelte Dreiecke in Kegel und Quadrate in Rechtecke oder Zylinder. »Beim Falten«, erklärte er, während er seinem Sohn ein Viereck zeigte, »erhältst du ein Dreieck, ein Rechteck oder ein kleines Zelt.« Außerdem erfand er für seinen Sohn Zahlenspiele,

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